Stephen Ornes

von Martin Skrodzki

Es gibt Künstlerinnen und Künstler, die sich ihre Objekte dadurch erarbeiten, dass sie sich in wissenschaftliche Bereiche begeben und sich in diesen bewegen. Sie benutzen die Methoden, Ergebnisse, Visualisierungen und Prozeduren der jeweiligen Wissenschaft und interpretieren sie neu, indem sie ihre ganz eigene Sicht und ihr eigenes Verständnis einbringen. Beispiele hierfür finden sich in allen Wissenschaften. Das Buch „Math Art - Truth, Beauty, and Equations“ von Stephen Ornes sammelt in vier Hauptkapiteln unterschiedliche Ansichten und Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, deren Beschäftigungsfeld die Mathematik ist. Unter den Titeln „Dem Universum einen Sinn geben“, „Fremde Formen“, „Reisen“ und „(Nahezu) Unmögliches“ stellt der Autor jeweils vier oder fünf Künstlerinnen und Künstler mit ihren Werken vor.

Schon im Vorwort wird das Programm für das Buch vorgegeben, indem drei Ziele formuliert werden. Zuerst sollen die behandelten Kunstwerke jeweils einen soliden mathematischen Hintergrund aufweisen. Das heißt, es soll nicht darum gehen, Mathematik auf Kunst anzuwenden. Vielmehr soll aus der Mathematik selbst heraus Inspiration entstehen, die dann ihrerseits das Kunstwerk schafft. Auch und insbesondere für Laien schließt sich an die insgesamt 19 Beschreibungen der Künstlerinnen und Künstler jeweils ein Abschnitt über „die Mathematik hinter der Kunst“ an. Die Quilts (Steppdecken) von John Sims werden so mit der transzendenten Kreiszahl π verbunden. An die Beschreibung der Arbeiten von Melinda Green schließen sich die Bildungsvorschriften für die Mandelbrotmenge an, und auf Robert Boschs Arbeiten folgt eine Einführung in das Problem des Handlungsreisenden. Die mathematischen Beschreibungen sind knapp gehalten, vermitteln aber einen allgemeinverständlichen Einblick in die zugrundeliegenden Konzepte. Literaturhinweise ermöglichen ein tieferes Eintauchen in die Materie.

Das zweite erklärte Ziel des Buches ist die Präsentation von Kunst, nicht von Visualisierungen. Letztere sind sicherlich im Rahmen der Vermittlung von Mathematik hilfreich. Sie müssen jedoch auch entsprechend präzise und schmucklos sein, um den Blick auf das Wesentliche nicht zu verdecken. Hierbei ist häufig kein Raum für Ästhetik oder auch nur die Verwendung unterschiedlicher Materialien. Die Beispiele aus Ornes' Buch illustrieren auf ihre jeweils sehr spezielle Art und Weise mathematische Strukturen, jedoch tun sie dies nicht immer offensichtlich oder gar didaktisch. Auch der vorgebildeten Leserschaft erschließt sich die inhärente Mathematik häufig erst auf den zweiten Blick oder nach der Lektüre der oben angesprochenen mathematischen Erläuterungen. Umso spannender ist es, das Buch zu entdecken und sich an den unterschiedlichen Facetten der präsentierten Mathematik zu erfreuen.

Als drittes und letztes setzt sich Stephen Ornes das Ziel, über die Arbeit (noch) lebender Künstlerinnen und Künstler zu berichten. Obwohl von dieser Regel auch abgewichen wird, ist der Vorteil doch offensichtlich: Die Kunstschaffenden konnten sich im Prozess der Niederschrift des Buches äußern. Und so entstand eine große Stärke des Buches; es präsentiert nicht nur die Kunstwerke, sondern auch die Motivation sowie den Schaffensprozess. Da nahezu alle Interviewten unterschiedliche Zugänge zur Mathematik haben, entsteht ein Dokument, das die vielseitige Betrachtung von Mathematik festhält. Dies wird nicht nur in der Vielfalt der Materialien (z. B. Stoff, Keramik, Bronze, Digitaldruck), sondern auch in der Breite der mathematischen Fachgebiete wie Zahlentheorie, Differential- und Elementargeometrie sowie Diskreter Mathematik deutlich.

Das Buch ist in englischer Sprache geschrieben, jedoch ist das gewählte Vokabular sehr einfach. Stephen Ornes wendet sich dezidiert nicht an Expertinnen und Experten, sondern an alle Interessierten. Mit seinen zahlreichen, qualitativ hochwertigen Illustrationen handelt es sich bei „Math Art“ fast eher um einen Bildband als um ein Sachbuch. Denn bereits das Durchblättern und Betrachten der abgebildeten Kunstwerke bereitet ungemeine Freude.