Mathematiker des Monats Mai 2015
Ernst Ferdinand Adolf Minding (1806-1885)
von Karin Reich
Ernst Ferdinand Adolf Minding
Ernst Ferdinand Adolf Minding
 
Ferdinand Minding wurde am 11. Januar 1806 in Kalisch (heute Kalisz in Polen) geboren, das seit der zweiten polnischen Teilung im Jahre 1793 zur Provinz „Südpreußen“ gehörte; diese gab es bis 1807. Nach 1815 gehörte Kalisch zur bis 1920 existierenden „Provinz Posen“, die ebenfalls zu Preußen gehörte. Im Jahre 1807 übersiedelten Mindings Eltern nach Hirschberg (heute Jelenia Góra in Polen), das damals in der preußischen Provinz Schlesien lag; dort besuchte Minding das Gymnasium. Er studierte an den Universitäten Halle und Berlin; er promovierte 1829 mit der mathematischen Arbeit „De valore integralium duplicum quam proxime inveniendo“ in Halle und habilitierte sich am 6. November 1830 in Berlin. Nachdem er vorübergehend als Lehrer gewirkt hatte, wurde er 1831 Privatdozent an der Friedrich Wilhelms Universität, wo er bis 1843 Vorlesungen hielt; darüber hinaus war er von 1835 bis 1843 als Nachfolger von Dirichlet an der Bauakademie tätig. 1842 erhielt Minding einen Ruf an die in Russland gelegene Universität Dorpat (heute Tartu in Estland), wo er von 1843 bis 1883 als Professor der angewandten Mathematik wirkte. Bereits im Jahre 1861 wurde er mit dem hochangesehenen Demidov-Preis ausgezeichnet. Im Jahre 1864 wurde er russischer Staatsbürger sowie Mitglied der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg; 1879 wurde er sogar deren Ehrenmitglied. Minding starb am 13. Mai 1885 in Dorpat.
In Berlin verbrachte Minding eine wissenschaftlich äußerst ertragreiche Zeit und trotzdem konnte er dort beruflich nicht reussieren. Der zweimalige Versuch, Extraordinarius zu werden, scheiterte; auch hatten Dirichlets Bemühungen, Minding zum Mitglied der Berliner Akademie wählen zu lassen, keinen Erfolg. Dennoch gehörte Minding zu den Pionieren der modernen Mathematik in Berlin. Minding arbeitete über viele Gebiete, er veröffentlichte Arbeiten zur Zahlentheorie, Statik, Analysis, Differentialgleichungen, Variationsrechnung usw. Sein weitaus wichtigstes Arbeitsgebiet war die Differentialgeometrie, wobei er der erste Mathematiker war, der an Gauß' im Jahre 1828 veröffentlichte „Disquisitiones generales circa superficies curvas“ erfolgreich anknüpfte. Adolf Knesers Urteil lautete folgendermaßen: „Minding darf als der erste Nachfolger [von Gauß] bezeichnet werden, der wenn auch auf des Meisters Bahnen wandelnd, in wesentlichen Punkten über Gauß hinausgegangen ist“. So stellte Minding als erster 1830 die geodätische Krümmung vor und beschäftigte sich nicht nur mit speziellen Abwicklungen wie Gauß, sondern auch mit allgemeineren Fällen. Er formulierte 1838 als erster den Satz, dass geschlossene konvexe Flächen unbiegsam sind. Da passte es sicherlich gut, dass in Dorpat Karl Eduard Senff sein Kollege war. Senff war Schüler von Martin Bartels, und dieser war Gauß' langjähriger Jugendfreund. Senff, der in Dorpat die Professur für reine Mathematik bekleidete, hatte bereits 1831 eine Dissertation über die Theorie der Kurven vorgelegt, in der erstmals die Frenet'schen Formeln, das sind die grundlegenden Formeln der Kurventheorie, abgeleitet wurden. Die entsprechende Publikation von Frédéric Frenet stammte aus dem Jahre 1852! Senff, der leider bereits 1849 verstarb, und Minding betreuten einen herausragenden Studenten, nämlich Karl Michailovi Peterson, der in seiner 1853 fertiggestellten, in deutscher Sprache verfassten Dissertation „über die Biegung der Flächen“ den Hauptsatz der Flächentheorie formulierte und bewies. Durch Senff und Minding wurde die Universität Dorpat zu einem Zentrum für Differentialgeometrie; die dort erzielten Ergebnisse konnten sich durchaus mit den Ergebnissen der maßgeblichen französischen Mathematiker messen.
Gauß hätte allen Grund gehabt, Mindings Leistungen zu würdigen, aber leider beschäftigte sich Gauß in späteren Jahren nicht mehr mit Differentialgeometrie.
 

Referenzen

[1]   Kurt-Reinhard Biermann: Der Mathematiker Ferdinand Minding und die Berliner Akademie. Monatsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 3 (1961) S.128-133
[2]   Kurt-Reinhard Biermann: Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität 1810-1933; Stationen auf dem Wege eines mathematischen Zentrums von Weltgeltung. Akademie-Verlag, Berlin, 1988, S. 52 - 56, ISBN 3-05-500402-7
[3]   Rimma Ivanovna Galchenkova, Ülo G. Lumiste, Jelena-P. Ozhigova und Josif B. Pogrebysskij: Ferdinand Minding. Nauka, Leningrad, 1970.
[4]   Adolf Kneser: Übersicht über die wissenschaftlichen Arbeiten Ferdinand Minding's nebst biographischen Notizen. Zeitschrift für Mathematik und Physik 45 (1900) S. 113* - 128* (Historisch-literarische Abteilung)
 

Bildnachweis

Porträt   Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons, Porträt