Mathematiker des Monats April/Mai 2018
Wolfgang Döblin alias Vincent Doblin (1915-1940)
von Sylvie Rœlly
 

Zusammenfassung

Der zweite Sohn Alfred Döblins, Wolfgang, war ein genialer Mathematiker aus Berlin, der im Pariser Exil an der Sorbonne mit einer Arbeit zur Wahrscheinlichkeitstheorie promovierte. Um seiner Gefangennahme als französischer Soldat durch die deutsche Wehrmacht zu entgehen, nahm er sich 1940 in den Vogesen das Leben. Sein wissenschaftliches Vermächtnis wird im Jahr 2000 in einem versiegelten Umschlag aufgefunden und gilt als wissenschaftliche Sensation. Sein berühmter Vater Alfred bezeichnete aber die Schriften seines Sohnes als Hieroglyphen.
 
Wolfgang Doeblin
Wolfgang Döblin
 

Lebensschritte

Wolfgang, auch Wolf genannt, wird 1915 in Berlin als zweiter Sohn von Alfred und Erna Döblin geboren. Doktor Alfred Döblin (1878-1957), Neurologe und Schriftsteller, hat sich 1919 mit seiner Frau und seinen drei Kindern in der Frankfurter Allee 340 im Bezirk Lichtenberg niedergelassen.
Wolfgang Doeblin mit seiner Mutter
Wolfgang Döblin mit seiner Mutter Erna
Briefmarke zu Alfred Doeblin
Briefmarke zu Alfred Döblin, die am 18. Juli 1978 als Teil des Briefmarkensatzes „Bedeutende Persönlichkeiten“ herausgegeben wurde
 
In Berlin besucht Wolfgang das Königstädtische Reformrealgymnasium. Da er sich als Jugendlicher sehr mit Politik beschäftigt, hört er ab 1931 spezielle Vorlesungen füer Schüler an der Deutschen Hochschule für Politik (DHP). Im April 1933 legt er das Abitur ab und folgt seiner Familie in die Emigration über Zürich nach Frankreich. Sein Vater Alfred, als engagierter Linker und Jude bedroht, war schon am Tag nach dem Reichstagsbrand auf Empfehlung des französischen Botschafters in Berlin, André François-Poncet (1887-1978), nach Paris geflohen. Insgesamt werden in den Jahren danach ungefähr 25.000 deutschsprachige Antifaschisten nach Frankreich emigrieren.
Die Familie Döblin wohnt in Paris bis 1940 unter der Adresse 5, square Henri-Delormel1). Wolfgangs Neigung zur (mathematischen) Volkswirtschaftslehre führt ihn zur Mathematik. In seinem Lebenslauf schreibt er 1933: „Ich beabsichtigte, an der Berliner Hochschule für Politik zu studieren und das Diplom der DHP zu erwerben. Ich habe nun jetzt die Absicht, Mathematik und Volkswirtschaft in Paris zu studieren, den Doktor rer. pol. zu machen und mich auf Statistik zu spezialisieren.“
In dieser Zeit blüht die französische Mathematik: Unter anderem lesen Maurice Fréchet (1878-1973), Émile Borel (1871-1956), Jacques Hadamard (1865-1963) und Paul Lévy (1886-1971) am Institut Henri Poincaré.
Institut Henri Poincare
Institut Henri Poincaré in Paris
 
Wolfgang erlebt insbesondere die spannende Entfaltung der Wahrscheinlichkeitstheorie dank Kolmogoroffs neuer Axiomatisierung. Dieser veröffentlicht 1933 sein fundamentales Werk „Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung“. Fréchet ist daran so interessiert, dass er Wolfgang darum bittet, Auszüge davon vom Deutschen ins Französische zu übersetzten. Wolfgang braucht nur zwei Jahre, um sein Studium abzuschließen.
Um seine finanzielle Unabhängigkeit von seinen Eltern zu sichern, hatte sich Wolfgang – wie viele geflüchtete Kommilitonen, zum Beispiel Ervin Feldheim (1912-1944) oder Michel Loève (1907-1979) – für Kurse der Wahrscheinlichkeitsrechnung entschieden, die möglicherweise zu sicheren Karrieren wie die eines Aktuars oder Statistikers führen. Im Januar 1936 schreibt er sich als Doktorand der Mathematik bei Fréchet ein. „Ich weiß nicht, ob ich mich mehr für die Wahrscheinlichkeitsrechnung als für andere Zweige der Mathematik interessiere. Aber ich habe beschlossen, auf diesem Gebiet zu arbeiten, da ich spüre, dass dies einer der großen zukunftsträchtigen Zweige der Mathematik sein wird.“ Er arbeitet autonom, schnell und extrem fruchtbar unter anderem über „Probabilités en chaines“. Sein Doktorvater, dem er jede Woche neue Ergebnisse zeigt, ist überfordert! Innerhalb eines Jahres hat er schon die meisten Resultate erreicht, die er 1937 und 1938 in Bukarest und Athen veröffentlicht. Dank Fréchet, bekommt er ein Stipendium für begabte Studenten. Sein Mentor, der berühmte Paul Lévy, bezeugt 1955: „Man ist stets beeindruckt von seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, verschiedenartigste Probleme zu lösen, indem er sie direkt anpackte oder einen geschickten Weg entdeckte. Ich glaube sagen zu können, um eine Vorstellung zu geben, auf welchem Niveau er sich bewegt, dass man die Mathematiker an einer Hand abzählen kann, die seit [Niels Henrik] Abel (1802-1829) und [Evariste] Galois (1811-1832) so früh gestorben sind und ein so bedeutendes Werk hinterlassen haben.“
Wolfgang betrachtet aber seine eigenen Ergebnisse als relativ einfach und hat stets Angst, dass andere Forscher vor ihm seine Ergebnisse veröffentlichen. Daher schickt er oft seine Manuskripte und/oder Notizen an verschiedene Vertrauenspersonen, um seine Priorität zu sichern.
1937/38 organisiert er als junger Doktorand ein Seminar zur Theorie der Markov Prozesse mit stetigen Werten. Borel, Inhaber des Lehrstuhls für Wahrscheinlichkeitsrechnung und mathematische Physik, institutionalisiert dieses Seminar an der Sorbonne und nennt es Séminaire de Probabilités. Bis heute hat dieses einen sehr guten Ruf.
Im März 1938 verteidigt er seine Doktorarbeit, zu diesem Zeitpunkt hat er bereits fünf Artikel und fünf Mitteilungen bei der Akademie veröffentlicht. Er ist Frankreichs jüngster promovierter Mathematiker.
Inzwischen erhielten im Oktober 1936 die Mitglieder der Familie Döblin die französische Staatsbürgerschaft. Wolfgang nennt sich jetzt Vincent Doblin. Er muss deswegen nach seiner Promotion zum zweijährigen Militärdienst. Er wird als einfacher Infanteriesoldat zweiter Klasse eingezogen, da er eine Laufbahn als Offizier ablehnt – er möchte keine Sonderbehandlung als Doktor haben.
Wolfgang Doeblin im Einsatz
Wolfgang Döblin im Einsatz als Funker
Die Mathematik mit ihrer abstrakten Sprache hilft ihm, sein Heimweh zu bekämpfen. Er forscht weiter, alleine, in seiner wenigen Freizeit. Als der Krieg ausbricht, wird er als Funker in den Ardennen stationiert.
In seiner Kabine kann er sich zurückziehen und nachdenken. In den kalten Nächten des Sitzkrieges schreibt er in einem Schulheft Beweisführungen seiner vorher angekündigten Ergebnisse über die Kolmogoroffsche Gleichung auf.
Wolfgang schreibt an Fréchet, dass er ein Manuskript in einem versiegelten Umschlag an die Académie des Sciences in Paris geschickt hat, um es in Sicherheit zu bringen. Er wird, so schreibt er, die Arbeit daran nach dem Krieg fortsetzen und seine Ergebnisse publizieren.
Akademie der Wissenschaften, Paris
Académie des Sciences in Paris
 
Im Mai 1940 greift die deutsche Wehrmacht Frankreich an. Am Tag vor dem Waffenstillstand, als Wolfgang mit seinen Leuten nach schweren Kämpfen in den Vogesen eingekesselt wird, verbrennt er alle seine Papiere und erschießt sich dann in einem Bauernhof in Housseras.
Scheune in Housseras
Scheune in Housseras
 
Er vermutet, die Deutschen würden ihn als Verräter behandeln und ihn gegen seinen, von der Gestapo gesuchten Vater ausspielen. Tatsächlich, hat sich die französische Regierung im Waffenstillstandsabkommen verpflichtet, alle von der Regierung des Reichs bezeichneten deutschen Staatsangehörigen, die sich in Frankreich aufhalten, auf Verlangen auszuliefern.
Als unbekannter Soldat wird Wolfgang inmitten deutscher und französischer Soldaten in Housseras begraben. Erst im März 1945 erfahren seine Eltern von seinem Tod. Seine Mutter Erna ist untröstlich. Die Eltern Döblin werden 1957 an der Seite ihres Sohnes beigesetzt.
Tafel zu Alfred Doeblin
Tafel für den Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin mit Bezug auf seine Ehefrau und deren Sohn Vincent in Housseras
Die Inschrift der Tafel lässt sich wie folgt ins Deutsche übersetzen:
Alfred   DÖBLIN
Arzt und Literat
1878 – 1957
ruht hier mit seiner Gattin nahe bei
deren Sohn Vincent
für Frankreich gestorben
 
Grabinschrift fuer Wolfgang Doeblin
Inschrift zu Wolfgang Döblin – in Frankreich nannte er sich Vincent Doblin – an der Grabstätte seiner Eltern auf dem Friedhof in Housseras
Die Inschrift am Grab lässt sich wie folgt ins Deutsche übersetzen:
Vincent   DOBLIN
291-ste Infantrie Regiment
geboren am 7. März 1915 – gestorben für Frankreich
in Housseras – am 21. Juni 1940
 
Wolfgangs Œuvre umfasst dreizehn veröffentlichte mathematische Artikel und dreizehn Mitteilungen an die Académie des Sciences. Seine mathematischen Forschungsschwerpunkte sind Markov-Ketten (insbesondere die Kopplungsmethode), Markov-Prozesse mit Sprüngen und Diffusionen.

Vater und Sohn: Unglückliche Missverständnisse trotz Parallelitäten

Folgende Gemeinsamkeiten von Vater Alfred und Sohn Wolfgang sollte man benennen:
  • Das Interesse an einer linksorientierten Politik sowie den tiefen Sinn zur Gerechtigkeit. Beide haben keine Furcht, ihre Meinung zu äußern. Wolfgang hatte insbesondere mal formuliert: „Ich habe das Recht, meine Meinung zu äußern, denn ich gehöre zu denen, die für ihre Ideen sterben können.“
  • Beide sind unabhängige Denker und Schöpfer.
  • Beide erleben in Paris eine echte Anerkennung der französischen Intellektuellen und der akademischen Welt: Wolfgang wird als vielversprechender Mathematiker von seinen Lehrern hoch geschätzt. Alfreds Werk Berlin Alexanderplatz wurde als Korpus der „Agrégation“ (Staatsexamen) für das Fach Deutsch im akademischen Jahr 1937/38 angenommen. Eine nationale Anerkennung!
Aber beide haben entgegengesetzte Temperamente, Lebensarten und Interessen. Da die Person von Alfred Döblin vielen bekannt ist, beschränken sich die nachstehenden Ausführungen auf Wolfgang: Er ist eher verschlossen und bewahrt seine geistige Welt. Er hat wenige Freunde und steht Ausschweifungen zurückhaltend gegenüber. So schreibt er zum Beispiel im November 1939 von der Front: „Da ich keinen Alkohol mag, habe ich nicht wie andere die Möglichkeit, mich zu betrinken.“
Alfred dagegen besitzt keinen Zugang zur Mathematik. „Ich persönlich habe ein Problem mit der Mathematik.“, schreibt er, „In den oberen Klassen war ich in Mathematik völlig ungenügend und habe ihretwegen zwei Jahre verloren. Zur selben Zeit aber, als meine mathematische Unfähigkeit derart eklatant war, schrieb ich meinen ersten Roman, und las Spinoza, Kant und Schopenhauer ohne jede Schwierigkeit.“ Alfred ist voller Ressentiments und äußert seinen Ärger über Wolfgang und dessen Passion: „Wolfgang, der unnahbare, der in den Wolken schwebt, schreibt seine meilenlange Doktorarbeit in Hieroglyphen, welche wahrscheinlich im ägyptischen Museum einen ersten Platz finden werden. Hebräisch ist gar nichts dagegen. Er geht aber nicht zu einer anderen Schrift über. Da ist nichts zu machen. Es ist eben Mathematik.“ (entnommen aus [3])
Wolfgangs Tod ändert Alfreds Stimmung vollständig. Er macht sich Vorwürfe, dass er seinen Sohn nicht genug geliebt habe. In einem Brief schreibt er im Jahr 1945 an Erna: „In den letzten Jahren, näherte er sich mir langsam, er hing ja eigentlich nur an Dir, aber ging mir nicht mehr so wie früher aus dem Weg, und ich hoffte, wir werden noch ganz gut werden; und hoffte immer während des Krieges, er möchte noch am Leben sein, damit zwischen uns alles gut würde, – nein ... Sein Ende hat mir einen fürchterlichen Schmerz bereitet ...“

Schicksale von Wahrscheinlichkeitstheoretikern im Umfeld von Wolfgang

Wie behandelten die Nazimachthaber 1933 die Mathematiker? Zunächst wird kurz die Situation im Deutschen Reich skizziert und anschließend die in Frankreich.
Ein Großteil der Mathematiker in Deutschland war jüdischer Abstammung und wurde im April 1933 ihrer Ämter enthoben. Die nichtjüdischen Mathematiker, die als politische Gegner eingestuft wurden, erfuhren dasselbe Schicksal. Weit über hundert Mathematikerinnen und Mathematiker verloren ihre Anstellung, die meisten emigrierten, darunter große Namen wie Richard Courant (1888-1972), Emmy Noether (1882-1935), Hermann Weyl (1885-1955). Auch Wahrscheinlichkeitstheoretiker und Statistiker wie Vilibald (William) Feller (1906-1970), Hilda Geiringer (1893-1973), Emil Julius Gumbel (1891-1966), Richard von Mises (1883-1953) und Abraham Wald (1902-1950) waren von Entlassungen betroffen und emigrierten. Als ein Minister den berühmten Prof. David Hilbert (1862-1943) aus Göttingen nach der Zukunft seiner Disziplin fragte, antwortete Hilbert: „Es gibt keine deutsche Mathematikschule mehr!“
In Frankreich standen die meisten Mathematiker politisch links, und waren aktive Antifaschisten. Zum Beispiel war das Borel-Seminar in Paris während der gesamten Besatzungszeit ein Ort des intellektuellen Widerstands. Émile Borel selbst floh nach Süd-Frankreich und spielte eine gewisse Rolle in der Résistance. Im besetzten Frankreich wurden Beamten mit Judenstatus nach dem Gesetz vom 3. Oktober 1940 von der Vichy-Regierung entlassen. Es traf acht naturwissenschaftlische Professoren aus Pariser Hochschulen. Davon wurden zwei in Konzentrationslagern ermordet.
Paul Pierre Levy
Paul Lévy
Der Mentor von Wolfgang, Paul Lévy, Professor an der École Polytechnique, aus dem wohlintegrierten, gehobenen Mittelstand, will trotz seines jüdischen Hintergrunds nicht glauben, dass er in grosser Gefahr ist. Er wundert sich, als er im Dezember 1940 seines Amtes enthoben wird. Ab 1942 muss Paul Lévy untertauchen. Die Gestapo vandalisiert seine Wohnung. Viele Dokumente werden vernichtet, insbesondere seine Korrespondenz mit Wolfgang. Lévy lässt sich nun Paul Lengé nennen, flieht in die italienische Zone und rettet sich auf diese Weise. Nach dem Krieg kann er 1945 wieder seine Professur bekleiden. Paradoxerweise ist dieser Lebensabschnitt von Paul Lévy einer der mathematisch fruchtbarsten – er beweist fundamentale Eigenschaften der planaren Brownschen Bewegung, unter anderem ihre konforme Invarianz.
Ervin Feldheim, in Ungarn geboren, kommt im Jahre 1931 nach Paris, um Mathematik zu studieren. Als Kommilitone von Wolfgang freundet er sich mit ihm an und ermutigt ihn, sich bei der Vorlesung über Wahrscheinlichkeitstheorie von Émile Borel und Georges Darmois (1888-1960) anzumelden. Mit einem „Licence“-Abschluss kehrt er nach Budapest zurück, und forscht dort mit Erfolg weiter, was seine Korrespondenz mit Lévy bezeugt. 1942 wird er von den Nazis ein erstes Mal festgenommen und deportiert. Dann wird er 1944 nach Serbien deportiert und ermordet.
In den Jahren 1909 bis 1919 ist Richard von Mises (1883-1953) ein begabter Professor für Wahrscheinlichkeitstheorie an der (zu dieser Zeit deutschen) Universität Straßburg. Danach wirkt er in Berlin. In den dreißiger Jahren wurde er als Gast in Paris empfangen. Wolfgang hätte ihn vortragen hören können.
Wegen seiner jüdischen Herkunft emigriert von Mises 1933 zunächst nach Istanbul, und dann 1939 mit seiner zukünftigen Frau, der Mathematikerin Hilda Geiringer, in die USA, wo sie lebenslang blieben.
Aus seinem türkischen Exil veröffentlicht er 1934 in einer sowjetischen Zeitschrift einen bemerkenswerten Artikel in französischer Sprache: „Problème de deux races“. Oberflächlich betrachtet, ist der Artikel eine detaillierte mathematische Analyse des theoretischen Problems des Vergleichs der Verteilungen eines quantitativen Merkmals in zwei verschiedenen Klassen. Aber als Anwendung kritisiert von Mises die Nazi-Rassendoktrin, indem er statistische Argumente satirisch benutzt: „In einem europäischen Land, das ungefähr 65 Millionen Einwohner besitzt, ist die Bevölkerung zwischen zwei Rassen A und B mit relativer Größe 0,9% und 99,1% verteilt. Ein ganz kleiner Anteil dieser Einwohner forscht im Bereich der Physik oder der Chemie. Man kann annehmen, dass die wissenschaftliche Qualität einer Gruppe von Forscher sich anhand der Anzahl ihrer Nobel-Preisträger messen lässt. Die Liste der Preisträger dieses Landes zwischen 1901 und 1933 enthält 27 Namen, daraus 5 aus der Klasse A. ... Schlussfolgerung: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 85%, ist die Chance, einen hochtalentierten Physiker oder Chemiker innerhalb der Klasse A zu finden, wenigstens 20 mal höher als in der Klasse B.“

Der versiegelte Umschlag 11-668 wird im Jahr 2000 geöffnet

Das Verfahren des Pli cacheté (des versiegelten Umschlags) der Académie des Sciences in Paris dient dazu, nicht veröffentlichte wissenschaftliche Werke urheberrechtlich zu schützen. Nur der Autor selbst kann sich seine eingesendeten Werke abholen. Im Todesfall können die Erben die Öffnung des Umschlags verlangen. Sollten sie dies nicht veranlassen, so ist die Akademie verpflichtet, den Umschlag 100 Jahre nach dessen Eintreffen zu öffnen.
Nach dem Krieg geriet der Pli cacheté von Wolfgang Döblin in Vergessenheit. Fréchet steht unter Schock, nachdem seine Frau von einem amerikanischen Militärlastwagen überfahren wird. Er kümmert sich nicht recht um Wolfgangs Nachlass und vergisst den versiegelten Umschlag. Lévy, trotz seiner Bewunderung für Wolfgang, ist hauptsächlich mit seiner eigenen Forschung beschäftigt. Erst 1991 entdeckt der Pariser Mathematiker Bernard Bru, bei der Vorbereitung der mathematischen Tagung Fifty years after Doeblin: Development in the Theory of Markov Chains, Markov Processes and Sums of Random Variables die Existenz des Pli cacheté. Die Brüder Klaus und Stefan Döblin erlauben die Öffnung des Umschlags jedoch erst im Mai 2000 – 60 Jahre nach seinem Eintreffen.
Notizen von Wolfgang Doeblin
Fragment aus den Aufzeichnungen Wolfgang Döblins
 
Es geriet zu einer wissenschaftshistorischen Sensation, nachdem das Schulheft von Bernard Bru und dem Akademiker Marc Yor entschlüsselt und als bahnbrechend erkannt wurde: Döblin versucht, die Fundamente eines Gebiets zu legen, das wir heute als stochastische Analysis bezeichnen. Zunächst beschreibt er pfadweise die Bewegung eines Teilchens, das sich zufällig auf einer Geraden bewegt. Er vergleicht diese diffundierende Bewegung mit einer Brownschen Bewegung, die man zu einer zufälligen Zeitskala betrachten würde. Dann entwickelt er in seinem Manuskript eine erste Version des stochastischen Differential- und Integralkalküls, in der er die zufällige Trajektorie der Diffusion unter einer glatten Funktion transformiert. Dieser Hauptsatz der stochastischen Analysis wurde später unabhängig von Döblin von dem japanischen Mathematiker Kiyoshi Itô (1915-2008) in den vierziger Jahren weiterentwickelt und wird heute als Itô-Formel bezeichnet. Der berühmte Pli cacheté wurde als Spezialband Nummer 331 der Comptes Rendus de l’Académie des Sciences de Paris vollständig im Dezember 2000 mit Anmerkungen veröffentlicht.
Die Resonanz dieser Ereignisse in der Öffentlichkeit ist seitdem groß. Zwei Dokumentarfilme wurden gedreht (von Ellinghaus & Ferry und von Handwerk & Willems), ein Buch von Marc Petit wurde auf Französisch und auf Deutsch veröffentlicht, viele Seminare wurden organisiert. Es gab insbesondere im November 2007 in Berlin eine gemeinsame Erinnerungsveranstaltung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Académie des Sciences de Paris, Academies meet genannt.
Die späte Wiedergeburt der genialen mathematischen Ideen von Wolfgang Döblin erzeugte eine noch breitere und tiefere Entwicklung der von ihm gefundenen Methoden und wurde Quelle neuer mathematischer Inspiration. Wolfgang wollte Volkswirtschaft studieren, um Politik besser zu verstehen. Heute ist „sein“ stochastisches Kalkül unter anderem die international anerkannte Sprache der Mathematisierung der quantitativen Finanzmathematik.
 

Referenzen

[1]   Brigitte Bergmann, Moritz Epple (Hrsg.): Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur, Springer Verlag, Berlin - Heidelberg, 2009
[2]   Bernard Bru: La vie et l’œuvre de W. Doeblin (1915-1940) d’après les archives parisiennes, Mathématiques et sciences humaines 119 (1992), S. 5 - 51
[3]   Alfred Döblin: Schriften zu Leben und Werk, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1926
[4]   Alfred Döblin: Schicksalreise: Bericht und Bekenntnis, Joseph Knecht, Frankfurt am Main, 1949
[5]   Peter Imkeller, Sylvie Rœlly: Die Wiederentdeckung eines Mathematikers: Wolfgang Döblin, Mitteilungen der DMV 15.3 (2007), S. 154 - 159
[6]   Paul Lévy: Quelques aspects de la pensée d’un mathématicien, A. Blanchard, Paris, 1970
[7]   Marc Petit: L’équation de Kolmogoroff. Vie et mort de Wolfgang Doeblin, un génie dans la tourmente, Ramsay, Paris, 2003
[8]   Reinhard Siegmund-Schulze: Mathematicians fleeing from Nazi Germany, Princeton University Press, 2009
[9]   Wikipedia: Waffenstillstand von Compiègne (1940)
 

Bildnachweis

Porträt mit Formel   Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://www.kinowerkstatt.de/index.php?p=archiv&id=181
Erna und Wolfgang   Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://www.alfred-doblin.com/photos-archive-alfred-doblin/
Briefmarke   Scan der Briefmarke mit 300dpi
Institut Henri Poincaré   Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://en.insmi.math.cnrs.fr/node/11
Funker   Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://www.afhalifax.ca/magazine/wp-content/sciences/AllianceFrancaiseHalifax_Doeblin.html
Académie des Sciences   André Zessin, 2017
Scheune, Gedenktafel und Grabstätte   Bezug auf das Bildmaterial zur Seite https://www.2c2r.fr/housseras/associations
Paul Lévy   Konrad Jacobs, das Bild ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Germany-Licenz
Notizen   Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://www.bpi.fr/la-lettre-scellee-du-soldat-doblin

1) Die Adresse ist in französischer Notation wiedergegeben