Nachruf
Fritz Gackstatter (1941 - 2016)
von
Heinrich Begehr
„Was bleibt?“ wird in Augenblicken gefragt, wenn ein lieber Mitmensch von uns
gegangen ist. Mancher von ihnen würde dann auf seine Veröffentlichungen in
Fachzeitschriften, Büchern oder auch der Tagespresse hinweisen, hoffend, dass diese
schließlich eine Fernwirkung entfalten werden. „Naja“, würde
Fritz Gackstatter dann nur gesagt haben.
Seine wissenschaftlichen Steckenpferde waren die Theorie der Minimalflächen in
Verbindung mit komplexer Analysis, Himmelsmechanik und die mathematische Physik,
hier insbesondere die Relativitätstheorie. Früh hat er sich mit seinen
Minimalflächen, den Gackstatterschen Minimalflächen,
vollständigen Flächen vom Geschlecht 1 beziehungsweise 2 mit einer
Randkomponente und Totalkrümmung -8π beziehungsweise -12π,
in die Reihe der unvergeßlichen Mathematiker eingegliedert.
Zur Konstruktion seiner Minimalflächen verwandte er als erzeugende analytische Funktion
die elliptische Weierstraßsche ℘-Funktion.
Der von Leonhard Euler und Joseph-Louis Lagrange begonnenen Theorie der Minimalflächen
haben sich Berliner Mathematiker immer wieder gewidmet aber auch Physiker und Ingenieure
taten dies. Bekannte Minimalflächen stammen von Heinrich Ferdinand Scherk (1823 der erste
Mathematik-Doktorand an der Berliner Universität) und von Hermann Amandus Schwarz.
Ernst Eduard Kummer, Karl Weierstraß und viele weitere Berliner arbeiteten an der Theorie.
Eine imponierende Aufstellung dieser Wissenschaftler findet sich in Johannes C. C. Nitsches
schönem Übersichtsartikel [5]. Er führt 64 Namen auf, sich selbst ausgelassen,
Fritz Gackstatter aber darunter und eine Beschreibung der Gackstatterschen Minimalfläche.
Fritz Gackstatter wurde am 20. November 1941 in Unterteschau im Sudetenland geboren.
Er hat in Würzburg Mathematik, Physik und Astronomie studiert und dort 1966 das Diplom in
Mathematik erworben und mit einer funktionentheoretischen Thematik (meromorphe und algebroide
Funktionen) 1969 bei Hermann Karl Schmidt promoviert.
Beide haben wir 1967 in Karlsruhe erstmals an einer Jahrestagung der
Deutschen Mathemtiker-Vereinigung (DMV) teilgenommen und uns dort kennengelernt.
Er war dann 1972 als Assistenzprofessor zur Funktionentheoriegruppe um
Christian Pommerenke an die Technische Universität (TU) Berlin gekommen, wo er sich 1975
habilitierte. 1976 habilitierte er sich an die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule
(RWTH) Aachen um und wurde dort 1979 außerplanmäßiger Professor.
In den 70er Jahren waren auch an der Freien Universität (FU) eine Vielzahl von
Professuren zu besetzen. Dem Fachbereich war damals die Schaffung von Arbeitsgruppen wichtig und
neu berufenen C4-Professoren wurde daher je ein Besetzungsvorschlag für eine weitere
Professur zugestanden. Ilppo Simo Louhivaara war 1976 als Nachfolger vom 1974 verstorbenen
Alexander Dinghas berufen worden. Als Schüler von Rolf Nevanlinna war er an
funktionentheoretischen Fragestellungen interessiert und da passte Herr Gackstatter mit seinem
Interesse für die Werteverteilungstheorie sehr gut. Seit 1979 wirkte Herr Gackstatter an
unserem Fachbereich. Hier entwickelte er auch sein Interesse in der Differentialgeometie in
Hinsicht auf Anwendungen in der mathematischen Physik, insbesondere in der
Relativitätstheorie (1984 erschien ein gemeinsamer Artikel mit seiner Frau Barbara in den
Annalen der Physik) und der Himmelsmechanik (differentialgeometrische Methoden für
dynamische Systeme, drei-Körper Problem, Planetenbewegungen).
Lange vor der politischen Wende hatte er wissenschaftlichen Kontakt zu dem DDR-Physiker
Hans-Jürgen Treder in Ost-Berlin geknüpft. Solche Beziehungen von Wissenschaftlern
aus West-Berlin waren zu der Zeit eine Seltenheit. Auch mit Rainer Schimming in Greifswald
hatte er fachlichen Kontakt, aber eine geplante gemeinsame Veröffentlichung zum Thema
„Lorentzian geometry determined by the volumes of small light cones“ kam wegen
eines in Greifswald erhobenen Verbotes nicht zustande.
Vom Leipziger Mathematiker Gerd Laßner kam später die Anregung, Herrn Gackstatter in die
Leibniz-Sozietät aufzunehmen. Dieser nach der Wende gegründeten Gesellschaft
stand auch Hans-Jürgen Treder nahe. G. Laßner, einer der Gründungsmitglieder,
und R. Schimming waren die beiden Bürgen für Fritz Gackstatters Aufnahme.
Da Gerd Laßner während des Aufnahmeprozesses verstarb, verzögerte sich die Wahl
von Fritz Gackstatter um ein Jahr bis 2006.
Als Professor Lo Yang von der Akademie der Wissenschaften von China bald nach Ende der
Kulturrevolution Europa besuchte, kam er auch nach Berlin, um vor allem Herrn Gackstatter
persönlich kennenzulernen. Prof. Yang ist ein führender Vertreter der
Nevanlinnaschen Werteverteilungslehre und die Arbeit von Herrn Gackstatter zusammen mit
dem finnischen Kollegen Ilpo Laine zu algebroiden Funktionen hatte sein Interesse geweckt.
In Chi Cheng Chen fand Herr Gackstatter einen Kollegen mit
gleichen Interessengebieten in der Differentialgeometrie und Funktionentheorie.
Die Kontakte führten im Jahr 1980 zu einem Gastsemester von Herrn Gackstatter an der
State University in São Paulo, Brasilien. Dort entwickelte er in Zusammenarbeit mit
C. C. Chen die erwähnten Minimalflächen [2].
In diesem Aufsatz werden zwei vollständige Minimalfkächen von endlicher Totalkrümmung
und Geschlecht 1 beziehungsweise 2 konstruiert, die zu einer ganzen Klasse von Minimalflächen
führte, der Chen-Gackstatterschen auch Chen-Gackstatter-Thayerschen Flächenfamilie
(siehe etwa [7] und [8]).
In einem beim Vieweg Verlag 1989 erschienenen, von der Bonner Gruppe um Hermann Karcher
geschaffenen Minimalflächenkalender, an dem auch Konrad Polthier mitgewirkt hat,
war eine Gackstattersche Minimalfläche aufgenommen.
In der Lehre an unserem Fachbereich hat Herr Gackstatter als Analytiker neben seinen
Spezialgebieten Funktionentheorie, Differentialgeometrie und Relativitätstheorie vor
allem im Servicebereich für die mathematische Physik gewirkt.
Jedes Semester waren damals vier Vorlesungen über Mathematik für Physiker abzuhalten,
und die dafür zuständigen Kollegen waren immer dankbar, wenn sich jemand für
einen Kurs bereitfand. Als das Lehrdeputat der Hochschullehrer noch liberal gehandhabt wurde,
konnten zwei Kollegen gemeinsam Seminare abhalten. Das haben F. Gackstatter und ich jahrelang
zur Bereicherung für Diplomanden, Doktoranden und Staatsexamenskandidaten auch unter
Mitwirkung von Assistenten getan. Eines dieser Seminare führte zu der gemeinsamen
Publikation [1].
Herr Gackstatter war Mitglied der AMS, der DMV und der BMG. Nach seiner aktiven Zeit am
Fachbereich war er wissenschaftlich vornehmlich mit der Leibniz-Sozietät verbunden,
deren Mitglied er seit 2006 war (siehe den Nekrolog von Rainer Schimming).
Hier hat er seine jüngsten Untersuchungen zum lunisolaren Einfluss auf Erdbeben,
Springfluten und Tsunamis vorgestellt und publiziert. Diese Arbeiten sind bei der
Leibniz-Sozietät (Sitzungsberichte 2008) und in nichtmathematischen Zeitschriften
(Journal of Coastal Research, 2007; Astronomische Nachrichten, 2011, zusammen mit
seinem Sohn Christoph; Leibniz Online, 2015 [3][4]) veröffentlicht aber nicht vom
Zentralblatt für Mathematik erfasst. In der letzten Arbeit kommt er zu Prognosen
über Situationen, die in den Jahren 2016, 2017/18 und 2021/22 zu erneuten Katastrophen
führen können.
Zu seinen Hobbies gehörten auch das Bergsteigen und das Marathonlaufen.
Im Grunewald konnte man ihm in den achziger und neunziger Jahren beim Joggen begegnen.
Als Hochschullehrer war er bei Kollegen, Mitarbeitern und Studenten als zuverlässiger,
stets ausgeglichener und freundlicher Partner sehr beliebt. Seit 1983 war er mit
Barbara Gackstatter verheiratet. Sie haben drei Kinder. Frau Gackstatter hat freundlicherweise
das beigefügte Foto zur Verfügung gestellt und diesen Text mit Hinweisen bereichert.
Auch Rainer Schimming hat Details vor allem zur Leibniz-Sozietät angemerkt.
Referenzen
[1] | Heinrich Begehr, Fritz Gackstatter und Andreas Krausz: Integral representations in octonionic analysis, in: J. Kajiwara, et al. (Hrsg.) Proc. 10th Intern. Conf. Fin. Infin. Dim. Complex Anal. Appl., Busan, Korea, 2002, S. 1-7 | |
[2] | Chi Cheng Chen und Fritz Gackstatter: Elliptische und hyperelliptische Funktionen und vollständige Minimalflächen vom Enneperschen Typ, Math. Ann. 259 (1982), S. 359-369 | |
[3] | Fritz Gackstatter: Lunisolarer Einfluss auf die Entstehung von Erdbeben, Leibniz Online, Jahrgang 2015, Nr. 19 | |
[4] | Fritz Gackstatter: Moon Theory, Tidal Dynamics, and Earthquake Statistics, Leibniz Online, Jahrgang 2015, Nr. 20 | |
[5] | Johannes C. C. Nitsche: Mathematik in Berlin, Born konkreter Geometrie über die Jahrhunderte, in: Heinrich Begehr (Hrsg.), Mathematik aus Berlin, Weidler Buchverlag, Berlin, 1997, S. 106-164 | |
[6] | Rainer Schimming: Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Fritz Gackstatter | |
[7] | Wikipedia: Chen–Gackstatter surface | |
[8] | Wolfram MathWorld: Chen-Gackstatter Surfaces |