Nachruf
Jochen Brüning (1947 - 2025)
von Gavril Farkas
 
Jochen Bruening
Jochen Brüning
 
Am 16. Januar ist unser Kollege Prof. Dr. Jochen Brüning verstorben. Sein Ableben macht uns sehr traurig, zumal wir mit ihm einen Kollegen verloren haben, der nicht nur ein hervorragender Mathematiker und Kulturwissenschaftler war, sondern sich auch um die Gestaltung des Instituts für Mathematik der Humboldt-Universität nach 1990 große Verdienste erworben hat.
Jochen Brüning studierte von 1966 bis 1969 Mathematik und Physik an der Philipps-Universität Marburg und wurde 1972 bei Vojislav Avakumovic promoviert. Er war nacheinander Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (1979), der Universität Duisburg (ab 1979) und der Universität Augsburg (ab 1983). In Augsburg war er auch Senator der Universität, Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät und Prorektor für Forschung.
Im Jahre 1995 wurde Brüning Professor für Mathematik an der Humboldt-Universität zu Berlin. In den Jahren 1996 bis 1998 war er Geschäftsführender Direktor des Instituts für Mathematik der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war Mitglied des Akademischen Senats der Humboldt-Universität und Vorsitzender der Standort- und Entwicklungskommission.
Jochen Brüning war unter anderem Gastwissenschaftler am IHES in Paris, am Institute for Advanced Study in Princeton, an der Universität Paris-Süd, am Fields Institute in Toronto und am Massachusetts Institute of Technology. Seit 2002 war er Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Jochen Brüning war ein Geometer, der sich insbesondere mit geometrischer Analysis und Riemannscher Geometrie befasste. In einer seiner frühen Arbeiten bewies er eine sehr bekannt gewordene untere Abschätzung für das Wachstum der Gesamtlänge der Knotenlinien zur n-ten Eigenfunktion des Laplace-Operators auf geschlossenen Flächen. Für den Laplace-Operator auf einer kompakten Riemannschen Mannigfaltigkeit gibt es klassische Formeln, die asymptotische Schätzungen für die Anzahl der Eigenwerte kleiner als ein bestimmter Wert liefern. Diese Formeln können auch für beliebige positive elliptische Operatoren P verallgemeinert werden. Wenn es außerdem eine kompakte Lie-Gruppe gibt, die auf die Mannigfaltigkeit wirkt und mit P kommutiert, kann man die Eigenwerte von P mit den verschiedenen irreduziblen Darstellungen der Lie-Gruppe assoziieren. In einer in den Inventiones Mathematicae veröffentlichten Arbeit erzielte Brüning zusammen mit Ernst Heintze Abschätzungen für das asymptotische Verhalten der spektralen Zählfunktion jeweils eingeschränkt auf die irreduziblen Darstellungen der betreffenden Lie-Gruppe.
Zusammen mit Robert Seeley bewies Brüning grundlegende Resultate zur asymptotischen Entwicklung der Spur der Resolvente elliptischer Operatoren auf Mannigfaltigkeiten mit kegelartigen Singularitäten. Die Operatoren werden dabei nahe der Singularität durch sogenannte regulär-singuläre Operatoren modelliert. Derselbe Grundgedanke findet sich auch an anderen Stellen, etwa in seinen Arbeiten mit Werner Ballmann und Gilles Carron zur Spektraltheorie von Mannigfaltigkeiten mit Spitzen oder Enden. Zusammen mit Matthias Lesch erzielte er fundamentale Resultate über funktionalanalytische Eigenschaften sogenannter Hilbert-Komplexe, welche als sehr abstrakte Verallgemeinerung des klassischen De-Rham-Komplexes aufgefasst werden können. Mit Vladimir Geyler und Konstantin Pankrashkin beschäftigte er sich mit der Spektralanalysis von Erweiterungen symmetrischer Operatoren mittels Rand-Tripeln und Weyl-Funktionen, mit Anwendungen etwa auf hybride Mannigfaltigkeiten. Diese Arbeit berührt auch die Mathematische Physik, eine weitere Forschungsrichtung Jochen Brünings.
Aus Sicht der Mathematik an der Humboldt-Universität von großer Bedeutung ist Brünings Arbeit als Vorsitzender der Struktur- und Berufungskommission für Mathematik (SBK). Die folgenreichen Entscheidungen dieser Kommission hatten massive Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Instituts für Mathematik nach der Wende. Die Struktur- und Berufungskommission wurde 1990 vom Berliner Senat (unter dem damaligen Wissenschaftssenator Manfred Erhard) gegründet, für jeden Fachbereich in jeder Ostberliner Hochschule, mit je 3 Professoren, die nicht aus der DDR kamen, sowie 3 Professoren aus der jeweiligen Einrichtung (die nicht politisch-ideologisch belastet sein sollten). 1991 wurde die SBK Mathematik berufen, mit Jochen Brüning (Augsburg), Hans Föllmer (Bonn), Klaus Hulek (Hannover) als auswärtige Mitglieder und mit Uwe Küchler, Herbert Kurke und Arno Langenbach aus Berlin. Jochen Brüning wurde zum Vorsitzenden der SBK gewählt.
Die SBK Mathematik hatte die Aufgabe, ein neues, modernes Institut für Mathematik zu schaffen. Mit einem Rückblick von mehr als 30 Jahren kann man mit Sicherheit sagen, dass die Kommission bei dieser einzigartigen Aufgabe sehr erfolgreich war (natürlich half auch die Tatsache, dass die Mathematik weitgehend ideologiefrei ist).
Der Berliner Senat hatte beschlossen, dass alle Professuren an der Humboldt-Universität neu ausgeschrieben werden. Problematisch waren die hohe Anzahl fest angestellter Mitarbeiter und die relativ kleine Anzahl vom Senat vorgegebener Stellen. Stelleninhaber(innen) hatten die Möglichkeit, sich auf ihre eigenen Stellen zu bewerben, bis auf wenige haben das auch alle getan. Es ist vor allem Jochen Brünings Verhandlungsgeschick gegenüber der Senatsverwaltung zu verdanken, dass die bewilligte Stellenausstattung gut war. Die Erfolgsquote der HU-Professoren bei der Bewerbung auf die eigene Stelle war sehr hoch. Dies sah in anderen Fächern (Jura, Wirtschaftswissenschaften, Geschichte) sehr viel anders aus. Mit mehreren prominenten Neuberufungen von außen ist es auch gelungen, dem Institut für Mathematik neue moderne wissenschaftliche Impulse zu geben.
Von 2005 bis 2014 war Jochen Brüning der Sprecher des Sonderforschungsbereiches „Raum – Zeit – Materie“, in dem Mathematiker und Physiker von HU, FU, Universität Potsdam und dem Albert-Einstein-Institut Potsdam-Golm gemeinsam forschten. Darüber hinaus setzte sich Jochen Brüning für die Verbindung von Mathematik und Physik ein, was sich 2010 in der Einrichtung einer Brückenprofessur Mathematische Physik niederschlug. Außerdem wurde 2011 auf seine Initiative hin eine Alexander-von-Humboldt-Professur zur Mathematischen Physik, besetzt mit Dirk Kreimer, eingerichtet. Nach seiner Emeritierung war Brüning bis 2018 Senior Advisor an der HU.
Jochen Brüning war im Organisationskomitee für den Internationalen Mathematikerkongress (ICM) 1998 in Berlin eingebunden und bereitete in dieser Funktion die Ausstellung „Terror and Exile“ über jüdische Mathematiker im Nationalsozialismus vor. Sein Interesse galt neben der Wissenschaft vor allem der Vermittlung von Wissen, was in vielen Aktivitäten zum Ausdruck kam. In dieser Hinsicht war er in den Jahren 1999 bis 2013 geschäftsführender Direktor des Hermann-von-Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik der Humboldt-Universität. Hervorzuheben sind seine Ausstellungstätigkeit sowie die Organisation der Helmholtz-Vorlesungen an der HU. Die Helmholtz-Vorlesungen fanden mehrmals pro Semester statt. Namhafte Wissenschaftler, unter ihnen viele Nobelpreisträger, trugen ihre Forschungsergebnisse einem wissenschaftlich interessierten Publikum vor.
Er setzte sich auch für die Förderung von hochbegabten Schülern im Fach Mathematik und für ihre Heranführung an ein Mathematikstudium ein. Kooperationen gibt es seitdem mit der Heinrich-Hertz-Oberschule und dem Andreas-Gymnasium. Neben seinen mathematischen Publikationen gibt es auch eine Reihe kulturwissenschaftlicher Publikationen, von denen insbesondere der gemeinsam mit Eberhard Knobloch herausgegebene Sammelband „Die mathematischen Wurzeln der Kultur“ (2005) zu nennen ist.
Mit dem Tod von Jochen Brüning hat das Institut für Mathematik der Humboldt-Universität zu Berlin einen seiner prägendsten Kollegen verloren. Das Institut für Mathematik trauert um den schweren Verlust und wird seinen Kollegen in währender Erinnerung behalten.