Mathematischer Ort des Monats Oktober 2019
Mathematische Fachbibliothek der Technischen Universität
in Berlin-Charlottenburg
Großzügige Lesesäle, über 60.000 Mathematikbücher und -zeitschriften sowie
regelmäßige Veranstaltungen kultureller Art: Die Mathematische Fachbibliothek der TU Berlin
in der Nähe des Ernst-Reuter-Platzes ist ein beliebter Ort für werdende und angehende Mathematiker*innen
sowie Mathematikinteressierte.
Die Anfänge
Nachdem die Buchbestände der Bibliotheken der Technischen Universität (TU) im zweiten Weltkrieg
nahezu vollständig zerstört wurden, gründete sich im Jahr 1946 die „Bibliothek der Abteilung
Mathematik“ aus den Restbeständen der mathematischen Lehrstühle.
In der Nachkriegszeit bemühten sich die Lehrstuhlinhaber, allen voran Prof.
Ernst Mohr und Prof.
Erich Kähler, Literatur zusammenzutragen,
damit zumindest die wichtigsten Werke zur Verfügung standen.
Bis Ende der 50er-Jahre wuchs der Bestand der Bibliothek auf über 5.000 Bände an.
Die Mathematische Fachbibliothek (MFB),
wie sie ab 1963 genannt wurde, entwickelte sich stetig weiter: Anfang der 60er-Jahre bezog sie drei
übereinanderliegende Räume in den oberen Etagen des neu eingerichteten östlichen Kopfbaus
des Hauptgebäudes.
Immer wieder mussten neue Räume für die wachsende Sammlung gefunden werden.
Zwischenzeitlich wurden die Bücher nach Himmelsrichtungen aufgestellt (z. B. W 3.2 oder O 5.4).
1965 veranlasste Prof.
Kurt Leichtweiß, dass bedeutsame
Zeitschriftenbände nachgedruckt wurden, um auch in diese den Nutzern der Fachbibliothek Einsicht
gewähren zu können.
Auf Initiative des langjährigen Leiters der Bibliothek Prof.
Detlef Krüger
wurde nach und nach zusätzliches Bibliothekspersonal eingestellt.
Durch den kontinuierlichen Einsatz der Mathematiker*innen für ihre Bibliothek, entstand mit der Zeit eine
sehr gut ausgestattete und professionell geführte Sammlung. Mit Unterstützung des benachbarten
Zentralblatts für Mathematik konnte in Zeiten knapper Mittel ein
zusätzlicher Bestandsaufbau durch die Überlassung von Fachbüchern, die im Zentralblatt
überzählig waren, betrieben werden.
Die neuen Räumlichkeiten
Im Jahr 1982 zog die Bibliothek aus dem Hauptgebäude in die eigens für sie konzipierten Räume
des Mathematikneubaus an der Straße des 17. Juni 136, wo sie bis heute im 1. Obergeschoss des
Westflügels zu finden ist. Die jungen Architekten
Georg Kohlmaier und
Barna von Sartory schufen in ihrem prototypischen
„Fun Palace der Mathematik“ zweifelsohne eine der
schönsten wissenschaftlichen Bibliotheken Berlins und berücksichtigten dabei die Wünsche und
Interessen der Mathematiker*innen, die eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Fachbibliothek erhielten.
Konzeptionell versuchten die Architekten, die Tradition der klassischen Forschungsbibliothek fortzusetzen:
An einer zentralen Servicetheke wird jeder Gast persönlich begrüßt und empfangen.
Einlass wird nur ohne Taschen und ohne Jacken gewährt, um die konzentrierte Arbeitsatmosphäre nicht
durch unnötiges Geraschel und Gekrame zu stören. Den Gästen der Fachbiliothek stehen deshalb
Schließfächer zur Verfügung. Die Besonderheiten des neuen Ortes sind die
guten Proportionen der Räume mit der eigens für sie konzipierten Möblierung.
Vielfältige Sichtbeziehungen zwischen den tiefergelegten Regalbereichen und den mit großen
Kugellampen gestalteten Arbeitssälen schaffen eine interessante Lernwelt, in der jeder Besucher seinen
Lieblingsplatz findet. Die Buchbestände sind inhaltlich nach der
Mathematics Subject Classification erschlossen und aufgestellt.
So können sie direkt in die Hand genommen werden, und man kann tagtäglich Mathematiker*innen und
Studierende beobachten, die durch die Regale streifen und sich ihre Mathematik heraussuchen.
Beim Stöbern gibt es auch einige Seltenheiten und Kuriosa zu entdecken. So besitzt die Bibliothek zum Beispiel
ein Liederbuch des Verbandes mathematischer und naturwissenschaftlicher Vereine an deutschen Hochschulen aus dem
Jahr 1902, einen Gedichtband mit dem Titel „Tangenten des Frohsinns“ von
Alexander Aigner und ein als
japanischer Manga illustriertes Lehrbuch zur Analysis.
Die Fachschaftsinitiative des
Instituts für Mathematik bezeichnet die Bibliothek übrigens als ein
„Paradies für jede mathematikbegeisterte Leseratte“.
Panoramablick über den kleinen Lesesaal
Die kuratierte Bibliothek
Für die Nutzung der Innenräume verfolgten die Architekten die Idee, den in ihnen Arbeitenden einen
gestalterischen Freiraum zu lassen. Die grauen Wände aus offenporigem Tuffstein und Sichtbeton eignen
sich gut, um Kunst zu präsentieren. Trotz der im Geiste der 70er-Jahre poppig durchdesignten Räume
mit knallgelben Türen, lichtblauen Regalen und feuerwehrroten Geländern treten die Werke hervor und
inszenieren den Ort neu. Das Potential für Kunstausstellungen innerhalb der Bibliothek erkannten Anfang der
90er-Jahre die beiden Mitarbeiterinnen Bärbel Erler und Iris Hahnemann, und so wurde auf ihre Initiative hin
die Bibliothek mit der Zeit zu einem kulturellen Zentrum des Instituts für Mathematik. Bis 2010 organisierten sie
vierteljährlich Ausstellungen zeitgenössischer Künstler*innen aus Ost- und Westberlin und sorgten dafür,
dass dieser einzigartige Ort unter der Bezeichnung Galerie in der Mathematischen Fachbibliothek über
die Grenzen der Universität hinaus bekannt wurde.
Im Zuge personeller Wechsel ab 2011 entwickelte sich das Veranstaltungskonzept weiter:
Im Takt der Hochschule eröffnet das Institut für Mathematik seitdem jedes neue Semester mit einer
kulturellen Abendveranstaltung, dem sogenannten Semesterauftakt in der Mathematischen Fachbibliothek.
Dabei wird die Idee verfolgt, die „Schätze des Hauses“, also Talente und Kontakte der Kolleginnen
und Kollegen, zu nutzen. Durch die Möglichkeit der Mitgestaltung des Semesterauftakts soll der Ort als
sozialer Treffpunkt und das persönliche Zugehörigkeitsgefühl zum Institut für Mathematik
gestärkt werden. Von Konzerten über Lesungen bis Kunstausstellungen konnte in den letzten Jahren
eine bunte Mischung aus Events veranstaltet werden:
Jahr | Sommersemester | Wintersemester |
---|---|---|
2019 | Raphy & Adry (Konzert Rock/Pop) | Geplant: Violetta Richard: schleierhaft (Kunstausstellung) |
2018 | Oupeinpo: Mathematics & Art – where constraints meet (Kunstausstellung) | The Aftermath (Podiumsdiskussion) United Swingtett (Konzert, Jazz & Swing) |
2017 | Hans Werner Pohl: Lichteinfall (Kunstausstellung) | Johannes Niedlich: LebeWesen (Kunstausstellung) |
2016 | Women in Mathematics throughout Europe – A gallery of portraits (Ausstellung) | Bernar Venet & The Concinnitas Portfolio: Art on Board – The Beauty of Math (Kunstausstellung) |
2015 | Unberechenbar – Mathematische Kriminalgeschichten (Lesung mit Ulrike Luderer) | Dirk Holzberg – X Populationen (Kunstausstellung) Manami N (Performance) |
2014 | Mathematische Instrumente (Ausstellung) Elisabeth Schmidt (Mitarbeiterkonzept, Klassische Musik) |
Eine Erzählung von Licht und Schatten – Vier Fotografinnen aus Taiwan (Kunstausstellung) |
2013 | Sebastian Blinde (Kunstausstellung) | Tanja Fagel, Kate Abbott, Sascha Fagel (Mitarbeiterkonzert, Rock/Pop) |
2012 | Stefan Sechelmann, Cornelius Langenbruch, Michael Joos, Thomas Kowalczyk (Mitarbeiterkonzert, Klassische Musik) | „Wir schmücken unsere Bibliothek“ (Mitarbeiterausstellung mit privaten Kunstwerken) |
2011 | Detlef aus dem Kahmen – Ahnen (Kunstausstellung) |
Gegenwart und Zukunft
Die Bibliothek wächst auch nach 35 Jahren immer noch weiter. Mittlerweile sind die Bücherregale
sehr voll und weitere Lagerflächen im Keller des Gebäudes wurden bezogen, um zum Beispiel die
Sammlung der Konferenzbände und selten genutzte Zeitschriften unterzubringen.
Nicht nur die Zahl der Medien, sondern auch die Besucherzahlen steigen stetig, obwohl viele Lehr- und
Fachbücher mittlerweile auch digital als E-Books verfügbar sind.
Fast jede*r Studierende trägt heutzutage mit dem Laptop und dem Smartphone das mobile Büro in der
Tasche und sucht als „Lernwanderer“ nach geeigneten Orten für das selbstorganisierte Studium
auf dem Campus. Die Bibliothek ist als Lernort attraktiver denn je, weil es kaum andere, nichtkommerzielle
Orte in der Stadt gibt, an denen Ruhe und Konzentration und dazu die benötigte Literatur zu
nutzerfreundlichen Öffnungszeiten angeboten werden. Zudem bietet das Bibliotheksteam ausleihbare
Arbeitsmaterialien wie Bleistifte, Radiergummis, Laptopschlösser und Ladekabel an.
Schmierpapier liegt in der Mathematischen Fachbibliothek kostenlos aus, ein besonderer Service für
Mathematikstudierende, die durch ihre Hausaufgaben einen sehr hohen Bedarf daran haben.
Schließlich heißt in der Mathematik lernen, Mathematik machen, und das geht in der
Explorationsphase des Studiums immer noch am besten mit Stift und Papier. Der Laptop dient vor allem als
Rechercheinstrument und zum Verfassen der Abschlussarbeiten.
Für das nun über 35 Jahre alte Mathematikgebäude der TU Berlin wird derzeit ein Ersatzneubau
nicht weit entfernt geplant und gebaut. Im Neubau Mathematik an der Fasanenstraße Ecke
Müller-Breslau-Straße wird neben den Bürobereichen für die Mitglieder des Instituts
für Mathematik, großen Hörsälen und zentralen Lehrbereichen mit studentischen
Arbeitsplätzen und einer Cafeteria auch die Fachbibliothek untergebracht.
Ein neuer mathematischer Ort entsteht. In der Bibliothek sollen auch zukünftig helle, ruhige Arbeitsplätze
und natürlich auch die mathematische Fachliteratur (gedruckt und digital) zur Verfügung stehen.
Das räumliche Konzept gliedert die Bibliothek in mehrere Zonen. Je tiefer man hineingeht,
desto ruhiger soll es werden. Beim Durchschreiten kommt man an verschiedenen Literaturbereichen und
Sitzarrangements vorbei. Jedem Besucher soll so die Möglichkeit des Entdeckens des für ihn idealen
Arbeitsplatzes gegeben werden. Wie am derzeitigen Ort bleibt ein besonderer Aspekt unverändert:
An einer zentralen Servicetheke soll jeder Gast in freundlichem Ambiente aktiv begrüßt und
empfangen werden. Voraussichtlich Ende des Jahres 2022 werden die Mathematiker*innen zusammen mit
„ihrer“ Bibliothek dorthin umziehen.
Bildnachweis
Bild einer Ausstellung | Ausschnitt einer Aufnahme von Kay Herschelmann, Berlin, © Kay Herschelmann, Berlin Mathematical School (BMS) | |
Bibliotheksordnung, Panorama und Poster | © Mathematische Fachbibliothek | |
Lesesaal | Ausschnitt einer Aufnahme von Oana Popa-Costea, © TU Berlin, Oana Popa-Costea |