Mathematiker des Monats Dezember 2017
Constantin Carathéodory (1873-1950)
von
Ulf Hashagen
Constantin Carathéodory wurde 1873 in Berlin geboren.
Sein Vater Stephanos Carathéodory war an der Botschaft des Osmanischen Reiches in Berlin
tätig und gehörte zu einer elitären Gruppe von Griechen im Osmanischen Reich,
die zumeist Schlüsselstellungen im diplomatischen Dienst einnahmen;
seine Mutter Despina stammte aus einer griechischen Kaufmannsdynastie.
Als sein Vater 1875 zum Gesandten des Osmanischen Reiches in Belgien ernannt wurde, zog die Familie
nach Brüssel, wo Carathéodory in einem großbürgerlich-kosmopolitischen Haushalt
aufwuchs, in dem Diplomaten, Künstler und Wissenschaftler aus Europa und dem Orient verkehrten.
Nach dem Abitur studierte Carathéodory an der École Militaire de Belgique und
arbeitete nach Abschluss des Studiums als Bauingenieur in der Türkei und in Ägypten.
Im Alter von 27 Jahren gab Carathéodory seine Stellung in Ägypten auf, da er –
wie er später schrieb – glaubte, dass nur die „hemmungslose Beschäftigung
mit Mathematik“ seinem Leben einen Inhalt geben könne. Carathéodory studierte anfangs
an der
Friedrich-Wilhelms-Universität
in Berlin, wo er vor allem von
Hermann Amandus Schwarz geprägt wurde, und ging dann 1902
an die Universität Göttingen, die unter
Felix Klein und
David Hilbert zu einem international
führenden Zentrum der Mathematik aufgestiegen war. 1904 promovierte Carathéodory in
Göttingen mit einer Arbeit zur Variationsrechnung und habilitierte sich schon ein Jahr später.
In den nächsten zehn Jahren erarbeitete sich Carathéodory durch seine Publikationen zur
Variationsrechnung, Funktionentheorie und Theorie der reellen Funktionen den Ruf, zu den
führenden Mathematikern Europas zu gehören. Der wissenschaftliche Stil seiner Publikationen,
die stets ein konkretes mathematisches Problem als Ausgangspunkt hatten und sich durch eine besonders
geschlossene und abgerundete Darstellung auszeichneten, rief bei den Zeitgenossen große Bewunderung
hervor. Das deutsche Wissenschaftssystem befand sich in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg auf dem
Zenit seiner Entwicklung, und Carathéodory gelang in diesem eine bemerkenswerte Karriere:
Er wurde 1909 als Ordinarius an die TH Hannover und 1910 an die TH Breslau berufen, und 1913 folgte er
einem Ruf auf den prestigereichen Lehrstuhl Felix Kleins an der Universität Göttingen.
Der Erste Weltkrieg erschütterte nicht nur die
Internationale Gelehrtenrepublik,
sondern brachte Carathéodorys bürgerlich-kosmopolitische Welt zum Einsturz.
Als im Spätsommer 1914 die deutschen Truppen das neutrale Belgien überfielen,
unterzeichneten seine Göttinger Mathematikerkollegen den unrühmlich bekannt gewordenen
Aufruf der 93 bzw. die Erklärung der Hochschullehrer des deutschen Reiches, in
denen die kulturelle und wissenschaftliche Elite Deutschlands die Gräueltaten in Belgien bestritt.
Diese für den in Belgien aufgewachsenen Carathéodory deprimierende Entwicklung sowie
die sich in Göttingen verbreitende patriotische Hysterie trieb ihn anscheinend in ein Gefühl
der zunehmenden Isolation. Auch wohl deshalb nahm Carathéodory 1918 einen Ruf an die
Universität Berlin an, verließ Berlin aber schon im nächsten Jahr, um im Auftrag des
griechischen Ministerpräsidenten den Aufbau der neu gegründeten Ionischen Universität
in Smyrna zu leiten. Diese Aufbauarbeit endete wenige Jahre später in einer Katastrophe,
da die Ionische Universität infolge der militärischen Niederlage der griechischen Truppen
in Kleinasien evakuiert werden musste, als die türkische Armee 1922 die Stadt Smyrna besetzte
und ein Massaker an 30.000 griechischen und armenischen Christen verübte.
Carathéodory war durch diese Ereignisse persönlich stark erschüttert und suchte
in der intensiven Beschäftigung mit seiner mathematischen Forschung Halt zu finden.
Er lehrte ab 1922 als Professor an der Universität Athen und an der Nationalen Technischen
Universität Athen, aber das elementare Unterrichtsniveau konnte für einen Mathematiker von
Weltruf kaum befriedigend sein.
1924 kehrte Carathéodory nach Deutschland zurück und folgte einem Ruf an die
Ludwig-Maximilians-Universität in München, an der Mitte der 1920er Jahre alle drei
Ordinariate für Mathematik neu besetzt und neben Carathéodory noch
Oskar Perron und
Heinrich Tietze berufen wurden.
In der Folge entwickelte sich München unter der Führung des harmonisch zusammenarbeitenden
Mathematikertriumvirats Carathéodory, Perron und Tietze zu einem der führenden
Forschungsstandorte für Mathematik im Deutschen Reich. Anderseits musste Carathéodory
bald feststellen, dass München nicht mehr die Stadt des Philhellenismus des 19. Jahrhunderts war,
sondern sich zum Auffangbecken für politisch rechtsstehende und völkische Kräfte aus dem
ganzen Deutschen Reich entwickelt hatte. Auch das akademische Leben an der Universität
München wurde mehr und mehr durch Fremdenfeindlichkeit, geistigen Provinzialismus und
Antisemitismus beeinflusst. 1928 bekam Carathéodory dies am eigenen Leib zu spüren,
als das Bayerische Finanzministerium verhindern wollte, dass er als „Ausländer“ einer
Einladung für eine Gastprofessur an der Harvard University folgen konnte –
erst das energische Einschreiten des Bayerischen Kultusministeriums machte dies möglich.
Carathéodory war 60 Jahre alt, als Adolf Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde.
Da er 1924 bei der Ernennung zum Professor an der Universität München in Bayern
eingebürgert worden war und da er nach 1933 vom Bayerischen Kultusministerium in der Liste
„arischer“ Professoren geführt wurde, wurde er in der Zeit des „Dritten Reiches“
weitgehend wie ein „normaler“ deutscher Professor behandelt.
Er behielt seine herausgehobene Stellung als Ordinarius an einer der führenden deutschen
Universitäten, und er konnte und wollte nicht emigrieren. Neben familiären Rücksichten
mag dabei eine Rolle gespielt haben, dass Carathéodory in einer Familientradition stand,
die als Elite dem Staatsdienst des Osmanischen Staates treu geblieben war, obwohl dieser Staat Krieg
gegen die griechischen Landsleute geführt hatte. Carathéodory versuchte sich gegen alle
politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Katastrophen, die er in den zwölf Jahren des
„Dritten Reiches“ miterleben musste, an das Selbstbild zu klammern, Teil einer über den nationalen
politischen Auseinandersetzungen stehenden internationalen wissenschaftlichen Elite zu sein,
wobei die Mathematik nicht mehr nur Wissenschaft blieb, sondern – wie schon in der
„griechischen Katastrophe“ Anfang der 1920er Jahre – eine für seine ganze
Existenz allein sinnstiftende Bedeutung erhielt.
Sein Handeln im und seine Haltung gegenüber dem „Dritten Reich“ hat sein Kollege Oskar Perron,
der wohl einer der couragiertesten Gegner des NS-Staates unter den deutschen Mathematikern war,
in einem Nachruf folgendermaßen beschrieben: „Er selbst versuchte die Jahre des politischen
Drucks möglichst zurückgezogen zu verbringen. Im Übrigen gingen aber die Ereignisse
nicht spurlos an ihm vorüber. Er litt unter den Entbehrungen und seine Gesundheit wurde
erschüttert.“ Dieses vielleicht auch auf innere Konflikte Carathéodorys verweisende
Bild steht teilweise in einem Widerspruch zu den Ergebnissen, die die wissenschaftshistorische
Forschung über Carathéodorys Handeln im „Dritten Reich“ bisher ans Licht hat bringen können:
Carathéodory gehörte zusammen mit seinen Mathematikerkollegen Perron und Tietze zu einer
Gruppe münchener Professoren, die mit symbolischen Solidaritätsakten gegen die Diskriminierung
und Ausgrenzung der „nichtarischen“ Mathematikerkollegen hervortrat.
Carathéodory gehörte außerdem zu einer Gruppe von Professoren, die in der
Universität München und in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gegen eine
„Nazifizierung“ der Wissenschaft und ihrer Institutionen kämpfte und dabei auch
Konflikte mit den Institutionen des NS-Staates nicht scheute. Carathéodory war aber auch bereit,
in einem gewissen Umfang mit dem NS-Wissenschaftssystem zu kooperieren und im Ausland als
Repräsentant des „Dritten Reiches“ wahrgenommen zu werden. Wenn er die deutsche
Wissenschaft in internationalen wissenschaftlichen Organisationen vertrat oder durch Vorträge
im Ausland als Repräsentant deutscher Wissenschaft auftrat, war nicht mehr klar zu unterscheiden,
ob er ein Repräsentant der weltumspannenden und universalen internationalen Wissenschaft
Mathematik oder ein Repräsentant des NS-Wissenschaftssystems war.
Ob Carathéodory diesen Konflikt gesehen hat, muss offen bleiben, aber er hat den
„Selbstwert“ der Wissenschaft wohl immer höher gestellt als einen
symbolisch-politischen Akt der Nichtteilnahme an einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz.
Nicht ganz fünf Jahre nach Kriegsende, im Februar 1950, starb Carathéodory in München
im Alter von 77 Jahren – wie Oskar Perron in seinem Nachruf schrieb –
„an einer tückischen Krankheit, die ihn mehrere Jahre geplagt hatte“.
Referenzen
[1] | Heinrich Behnke: Constantin Carathéodory 1873–1950, Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 75 (1974), S. 151-165 | |
[2] | Roland Bulirsch: Constantin Carathéodory; Leben und Werk, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1998), S. 27-59 | |
[3] | Maria Georgiadou: Constantin Carathéodory: Mathematics and Politics in Turbulent Times, Springer Verlag, Berlin etc., 2004 | |
[4] | Ulf Hashagen: Ein griechischer Mathematiker als bayerischer Professor im Dritten Reich: Constantin Carathéodory (1873-1950) in München, In: Dieter Hoffmann und Mark Walker (Hrsg.): „Fremde“ Wissenschaftler im Dritten Reich: die Debye-Affäre im Kontext, Wallstein Verlag, Göttingen, 2011, S. 151-181 | |
[5] | Freddy Litten: Die Carathéodory-Nachfolge in München 1938-1944, Centaurus, 37.2 (1994), S. 154-172 | |
[6] | Oskar Perron: Constantin Carathéodory, Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 55 (1952), S. 39-51 | |
[7] | Heinrich Tietze: Dem Andenken an C. Carathéodory, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1950), S. 85-101 |
Bildnachweis
Porträt | Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons, Quelle: File:Caratheodory Constantin.JPG, helle Bildpunkte wurden retuschiert | |
Grabstätte | Wolfgang Volk, Berlin, 2008, siehe auch Grab von Constantin Caratheodory in München |