Mathematikerin des Monats September 2015
Hilda Geiringer (1893-1973)
von
Iris Grötschel
Im Jahr 1927 habilitierte sich erstmals eine Frau an der Berliner Universität im Fach Mathematik.
Dies war die aus österreich stammende Hilda Geiringer, die ebenfalls die erste Privatdozentin in
angewandter Mathematik in Deutschland war. Sie gehörte damit zu den wenigen Frauen, die in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die akademische Phalanx der Männer eindringen und eine
wissenschaftliche Laufbahn einschlagen konnten.
Hilda Geiringer kam am 28. September 1893 als einzige Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie,
zu der noch drei Söhne gehörten, in Wien zur Welt. Da sich bereits auf dem Gymnasium ihr
außergewöhnliches mathematisches Talent zeigte, unterstützten ihre Eltern sie in ihrem Wunsch,
nach dem Abitur Mathematik zu studieren. Im Herbst 1913 nahm sie an der Wiener Universität ihr
Studium auf, das sie nach vier Jahren bei Wilhelm Wirtinger (1865-1945) mit einer Dissertation
über „Trigonometrische Doppelreihen“ abschloss.
Ende 1918 kam Hilda Geiringer das erste Mal nach Berlin. Sie arbeitete hier als wissenschaftliche
Assistentin in der Redaktion des Referateorgans „Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik“,
das damals von Leon Lichtenstein (1878-1933) geleitet wurde. Schon nach einem Jahr kehrte sie
nach Wien zurück, wo sie Mathematik und Physik an einer Spezialschule für Flüchtlingskinder unterrichtete.
Nachdem 1920 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität das Institut für Angewandte Mathematik
unter der Leitung des österreichischen Mathematikers Richard Edler von Mises gegründet worden war,
wurde Hilda Geiringer 1921 seine erste Assistentin. Kurz nach ihrem Umzug heiratete sie den ebenfalls
aus einer jüdischen Wiener Familie stammenden Mathematiker Felix Pollaczek (1892-1981). Bald nach
der Geburt der Tochter Magda im Jahre 1922 ging die Ehe auseinander; Hilda Geiringer zog das
gemeinsame Kind alleine auf. Wissenschaftlich beschäftigte sie sich an der Berliner Universität
unter anderem mit Mechanik, Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie. Sie führte Seminarveranstaltungen
durch und betreute Studenten in Praktika. Außerdem schrieb sie das Buch „Die Gedankenwelt der Mathematik“.
Mit der Gründung der Weimarer Republik nach der Novemberrevolution 1918 erhielten auch Frauen an
deutschen Universitäten das Habilitationsrecht. 1925 beendete Geiringer ihre erste Habilitationsschrift
„über starre Gliederungen von Fachwerken“, die jedoch von einem der Gutachter sehr negativ bewertet wurde.
Daher suchte sie sich ein neues Thema und reichte 1926 als zweite Habilitationsschrift
„Die Charliersche Entwicklung willkürlicher Verteilungen“ ein. Nach kleineren Korrekturen erhielt sie dafür
im November 1927 die „venia legendi“ für angewandte Mathematik. Sie hatte ein ausgesprochenes Lehrtalent,
und ihre Vorlesungen waren bei den Studenten sehr beliebt. Mehrere Frauen, die in jenen Jahren promovierten,
nannten sie ihre akademische Lehrerin. 1930 entwickelte sie die heute nach ihr benannte Geiringer-Gleichung
für die plastische Deformation. Die Fakultät schlug Geiringer Anfang 1933 für eine außerordentliche
Professur vor; das war bis 1945 die höchste Position, die eine Frau an einer preußischen Universität
erreichen konnte.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete jedoch Geiringers wissenschaftliche Karriere in Berlin.
Aufgrund des sogenannten „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde ihr wegen ihrer
jüdischen Abstammung die Lehrbefugnis entzogen. Sie emigrierte zunächst nach Belgien und später weiter
in die Türkei. Dort traf sie wieder mit Richard von Mises zusammen, der ebenfalls Deutschland verlassen
hatte und an der Universität in Istanbul das neugegründete
Institut für Reine und Angewandte Mathematik leitete. Geiringer unterrichtete an diesem Institut,
nach wenigen Jahren sogar auf Türkisch. Nachdem die politische Lage in der Türkei instabil wurde,
emigrierten Geiringer und von Mises 1939 in die USA, fanden jedoch nicht an derselben Universität
eine berufliche Chance. Hilda Geiringer lehrte an diversen Colleges, Gelegenheit zur Forschung
hatte sie zu ihrem Bedauern selten.
Im Jahr 1943 heirateten Geiringer und von Mises. Geiringer wurde Staatsbürgerin der USA und erhielt
eine Professorenstelle am Wheaton College, einem Liberal Arts College für Frauen in
Norton, Massachusetts, wo sie bis zu ihrer Emeritierung 1959 unterrichtete.
Nach dem Tod ihres Ehemannes, der an der Harvard Universität gelehrt hatte, gab sie seinen
akademischen Nachlass heraus. Hilda Geiringer starb 1973 in Kalifornien an einer Lungenentzündung.
Zur Erinnerung an Hilda Geiringer vergibt die Graduiertenschule „Berlin Mathematical School“ an besonders
talentierte BMS-Studentinnen ein nach ihr benanntes Stipendium (Hilda-Geiringer-Scholarship).
Referenzen
[1] | Christa Binder: Diverse Artikel über Hilda Geiringer im Austria Forum | |
[2] | Iris Grötschel: Das mathematische Berlin - Historische Spuren und aktuelle Szene, 2. Auflage der Neuauflage, Berlin Story Verlag, Berlin, 2013, ISBN 978-3-86368-013-8 | |
[3] | Annette Vogt: Die erste Privatdozentin für angewandte Mathematik in Berlin – Hilda Pollaczek-Geiringer, in Berlinische Monatsschrift, Heft 12/1998 |
Bildnachweis
Porträt | nach einer Fotografie gestaltet |