Mathematiker des Monats April 2017
Issai Schur (1875-1941)
Issai Schur wurde am 10. Januar 1875 in Mogiljow (weißrussisch Mahiljou, damals zum russischen Reich
gehörig) als Sohn des Kaufmanns Moses Schur geboren. 1888 verließ er seine Geburtsstadt und lebte bei
seiner verheirateten Schwester im russischen Gouvernement Kurland in Libau (Liepāja, Lettland).
In dieser stark von deutschen Einflüssen geprägten Umgebung absolvierte er bis 1894 das
deutschsprachige Nicolai-Gymnasium mit Bestnoten und beherrschte die deutsche Sprache nahezu perfekt.
Ab Oktober 1894 studierte Schur an der
Berliner Universität
Mathematik und Physik und promovierte 1901 bei
Georg Frobenius (1849 – 1917) und
Lazarus Fuchs (1833 – 1902)
mit einer Arbeit zur Darstellungstheorie der allgemeinen linearen Gruppe.
Da er für sich keine gute Perspektive im Russischen Reich sah, entschied sich Schur für eine
Universitätskarriere. Er habilitierte sich 1903 in Berlin, wirkte an der dortigen Universität bis
1913 als Privatdozent und nach einem dreijährigen Intermezzo als planmäßiger außerordentlicher
Professor in Bonn ab 1916 als außerordentlicher Professor sowie ab 1919 als persönlicher Ordinarius
beziehungsweise ab 1921 als Nachfolger auf dem Lehrstuhl von
Friedrich Schottky (1851 - 1935).
Schur genoss ein hohes Ansehen unter den deutschen Wissenschaftlern und im Ausland,
was unter anderem durch seine Wahl als Mitglied der
Leopoldina (1919) und der
Preußischen
Akademie der Wissenschaften
(1922) sowie als korrespondierendes Mitglied der
sowjetischen Akademie der
Wissenschaften
zum Ausdruck kam. Er war ein ausgezeichneter und äußerst beliebter Hochschullehrer.
Als Ordinarius gelang es ihm, eine Reihe talentierter Schüler um sich zu scharen und eine sehr
einflussreiche algebraische Schule unter den Mathematikern Deutschlands zu begründen,
die Ideen und Ergebnisse insbesondere zur Darstellung von Gruppen in verschiedene Richtungen ausdehnte.
Nach Hermann Weyl (1885 – 1955)
sind Schurs diesbezügliche grundlegende Einsichten in Tiefe und Breite mit denen
Emmy Noethers (1882 – 1935)
vergleichbar. Schur erkannte fundamentale Zusammenhänge und schuf verallgemeinerungsfähige Methoden,
die einen Ausgangspunkt für Anwendungen wie das Studium von Symmetrieeigenschaften in Geometrie und
Physik bildeten. Er betreute die Dissertationen von 22 Studierenden, von 6 weiteren konnte er die
Arbeiten nicht bis zum Abschluss führen. Viele der Doktoranden wurden dann selbst international
anerkannte Mathematiker.
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten bildete auch für Schur, der sich selbst als Deutscher und
nicht als Jude verstand, einen tiefen Einschnitt in sein Leben. Zunächst auf Grund des
Gesetzes
zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und von Nachfolgeverordnungen entlassen,
konnte er dank des Engagements seines Berliner Kollegen
Erhard Schmid
und auf der Basis der Sonderbestimmungen für „Altbeamte“ und Teilnehmer des Ersten Weltkriegs ab
Wintersemester 1933/34 einige spezielle Vorlesungen halten. Wohl die Situation völlig verkennend lehnte
er mehrere Stellenangebote aus dem Ausland ab. Doch viele seiner Schüler mussten fliehen, so dass die
algebraische Schule faktisch nicht mehr existierte, Schur immer mehr vereinsamte und zum Ende des
Sommersemesters 1935 auch seine Entlassung sich nicht mehr abwenden ließ.
Zwar konnte Schur im Februar 1936 auf Initiative seiner Schweizer Kollegen
Heinz Hopf (1894 – 1971) und
George Pólya (1887 – 1985)
eine Reihe von Vorlesungen an der Universität Zürich halten, doch die Lebensumstände wurden immer
bedrohlicher. Im April 1938 musste Schur seine Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie aufgeben und
wenig später, Anfang 1939, endete die Mitarbeit im Beirat der „Mathematischen Zeitschrift“.
In dieser schweren Zeit gelang es Schurs Frau Regina (geborene Frumkin, ~1881 – ~1965),
mit der er seit 1906 verheiratet war, durch geschicktes Agieren ihm eine Reihe direkter Konfrontationen
mit dem nationalsozialistischen System, speziell der Gestapo, zu ersparen.
Infolge ihrer wirtschaftlichen Lage und der diskriminierenden gesetzlichen Bestimmungen gestaltete sich
die Auswanderung für Issai Schur und seine Frau sehr schwierig und erst im Frühjahr 1939 konnten sie
nach Palästina ausreisen. Schurs Gesundheit war zu diesem Zeitpunkt schon sehr angegriffen.
Er war zutiefst deprimiert und musste wegen der prekären finanziellen Situation große Teile seiner
Bibliothek verkaufen. Trotzdem mühte er sich um einen Neuanfang, doch knapp zwei Jahre später verstarb
er an seinem 66. Geburtstag in Tel Aviv an einem Herzinfarkt.
Schur war ein sehr vielseitig arbeitender Mathematiker. Viele Begriffe sind heute mit seinem Namen
verbunden und dokumentieren sein umfangreiches und erfolgreiches Schaffen. Sein Hauptforschungsgebiet
war zunächst die Darstellungstheorie von Gruppen, in der er das Werk seines Lehrers Frobenius fortsetzte.
1905 gab er eine Neubegründung der Theorie der Gruppencharaktere, wobei er die grundlegenden Resultate
verallgemeinerte beziehungsweise ihre Beweise vereinfachte. Wenig später analysierte er systematisch,
wie sich die irreduziblen Darstellungen von endlichen Gruppen über einem kommutativen Körper bei
Körpererweiterungen verhalten und studierte zusammen mit Frobenius die Darstellungen unendlicher Gruppen
von Matrizen, die nicht vollständig reduzibel sind. In den folgenden Jahren hat er seine Forschungen
immer weiter ausgedehnt. In seiner Arbeit „über Potenzreihen, die im Innern des Einheitskreises
beschränkt sind“ gab er eine umfassende Behandlung des entsprechenden Interpolationsproblems,
das heißt der Bestimmung einer Funktion, die an endlich vielen gegebenen Stellen vorgegebene Werte annimmt.
Das von ihm entwickelte Verfahren zur Beschreibung der gesamten Lösungsmenge dieses Problems lieferte
einen Ausgangspunkt für Anwendungen in sehr verschiedenen Teilen der Mathematik, wie Vorhersagetheorie,
Streutheorie, Systemtheorie, Interpolationstheorie, lineare Algebra und inverse Differentialoperatoren,
die unter der Bezeichnung „Schur-Analysis“ zusammengefasst werden. Weitere Resultate betrafen die
Funktionentheorie, Integralgleichungen, Zahlentheorie, Differentialoperatoren und die Matrizentheorie
beziehungsweise fanden Eingang in allgemeinere Schöpfungen wie die Homologie- und Kohomologietheorie.
Referenzen
[1] | Jürgen Batt: Schur, Issai, in: Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Neue Deutsche Biographie, Bd. 23, Duncker & Humblot, Berlin 2007, S. 760 | |
[2] | Hermann Boerner: Schur, Issai, in: Charles Coulston Gillispie (Hrsg.), Dictionary of Scientific Biography, Bd. 12, Charles Scriber’s Sons, New York, 1975; S. 237 | |
[3] | Alfred Brauer und Hans Rohrbach (Hrsg.): Issai Schur; Gesammelte Abhandlungen, 3 Bde., Springer, Berlin usw., 1973 | |
[4] | Charles W. Curtis: Pioneers of Representation Theory: Frobenius, Burnside, Schur, and Brauer, American Mathematical Society, London Mathematical Society, History of Mathematics, vol. 15, Providence RI., 1999 | |
[5] | Antony Joseph, Anna Melnikov und Rudolf Rentschler (Hrsg.): Studies in Memory of Issai Schur, Progress in Mathematics, Bd. 210, Birkhäuser, Boston MA 2003 |
Bildnachweis
Porträt | Das Copyright liegt beim Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach (MFO), das Bild ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Germany-Licenz. | |
Grabmal | Petroph (Benutzername), das Bild ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International-Licenz. |