Mathematischer Ort des Monats Mai 2023
Straßenschild zum Cantorsteig in Berlin-Mariendorf
nebst Würdigung von Georg Cantor im öffentlichen Raum
von
Wolfgang Volk
Wenn der Name eines (bekannten) Mathematikers oder einer (bekannten) Mathematikerin als
Bestandteil einer Straßenbezeichnung auftritt, so ist nicht zwingend ausgesagt,
dass jene(r) auch Namensgeber(in) der betreffenden Straße ist.
Dies wird allerdings um so wahrscheinlicher, je kleiner der Ort und je enger der Bezug der
Person zum betreffenden Ort ist.
So ist
Gottlob Frege (1848-1925) nicht der
Namensgeber der Fregestraße in Berlin-Schöneberg -Friedenau und -Steglitz,
sondern der schöneberger Pfarrer Ferdinand Ludwig Frege (1804-1883) (siehe [2]).
Vergleichbares gilt unter anderem auch für die
Hilbertstraße
in Berlin-Lichtenrade, die
Riemannstraße
in Berlin-Kreuzberg und die
Rungestraße in
Berlin-Mitte. Es gibt jedoch in Berlin und Umgebung eine ganze Reihe von Straßen und Wegen,
deren Namensgeber Mathematiker(innen) sind.
Auch in Berlin nicht zwingend findet man aber doch recht oft zusätzliche kleine Tableaus
mit Hinweisen zum Bezug des Straßennamens – wie auch in der nachstehenden
Fotografie zu erkennen ist.
Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor
(1845-1918) studierte von 1863 bis 1867 Mathematik an der Berliner Universität –
lediglich durch einen einsemestrigen Studienaufenthalt in Göttingen unterbrochen –
und schloss dieses Studium mit der Promotion ab. Seit 1869 lehrte er an der
Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg1)
in Halle an der Saale bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1913. Kein Wunder also,
dass im Wesentlichen in Halle Zeugnisse zu Georg Cantor im Stadtbild zu finden sind.
Da wäre zum einen die Gedenktafel am Wohnhaus in der Händelstraße
(Nr. 13). Sie trägt die Inschrift:
In diesem Gebäude wohnte von 1886 bis 1918 Georg Cantor Professor für Mathematik an der Universität Halle - Wittenberg Begründer der Mengenlehre |
(Übrigens werden die nachstehend abgebildeten Objekte derart beschrieben, wie sie
vom Autor vorgefunden wurden, als die Fotos entstanden [siehe Bildnachweis]).
Darüber hinaus findet man in der Neustadt von Halle und zwar in der
Nietlebener Straße unweit der Hauptstraße An der Magistrale ein
würfelförmiges Denkmal. Mit der Gestaltung der vier Seitenflächen werden
vier Wissenschaftler gewürdigt: der Chemiker, Physiker und Mediziner
Georg Ernst Stahl (1659-1734),
der Altphilologe und Altertumswissenschaftler
Friedrich August Wolf
(1759-1824) und der Romanist
Viktor Klemperer (1881-1960)
sowie auch Georg Cantor (siehe auch [4]). Dieses gelegentlich auch als
Wissenschaftswürfel oder Wissenschaftler-Würfel bezeichnete Denkmal
aus Bronze wurde 1971/72 von
Gerhard Geyer geschaffen.
Die nachstehende Beschreibung fokussiert ausschließlich auf die Seitenfläche,
die Georg Cantor gewidmet ist.
Im oberen Teil der Gestaltung
dieser Seitenfläche dominiert ein (Hoch-)Relief in Gestalt eines
Porträts/Schulterstücks von
Georg Cantor, das auf der linken Seite von der Symbolik des Stadtwappens von Halle (Saale)
flankiert wird. Rechts von diesem Relief ist die Inschrift
zu lesen. Unmittelbar unterhalb des Porträts fällt die erläuterungsbedürftige
Gleichung
Georg Cantor Mathematiker Begründer der Mengenlehre 1845-1918 |
c = 2ℵ0
,
wobei das Symbol c in der Schriftart Fraktur gesetzt ist.
Dabei steht das Symbol ℵ0 für die Mächtigkeit (Anzahl der Elemente)
der Menge der natürlichen Zahlen ℕ2)={1, 2, 3, 4,
…} – nämlich
abzälbar (unendlich) –,
während das Symbol c die
Mächtigkeit der Menge der
reellen Zahlen ℝ bezeichnet. Genau derartige Fragestellungen haben G. Cantor zur
Begründung der Mengenlehre geführt. In diesem Zusammenhang hat G. Cantor zwei
Diagonalverfahren entwickelt, das
erste Diagonalverfahren
zum Beweis, dass die Menge der rationalen Zahlen ℚ und die Menge ℕ gleichmächtig sind.
Das Prinzip dieses Ansatzes ist mit dem Punktraster, das den rechten unteren Bereich am Denkmal
ausfüllt, angedeutet. Mit dem
zweiten Diagonalverfahren
bewies G. Cantor, dass die Menge der reellen Zahlen ℝ nicht abzählbar –
also überabzählbar – ist.
Letztlich ist unter der oben angegebenen Gleichung noch ein etwas verkürztes Zitat von
Georg Cantor als Inschrift wiedergegeben (vergleiche [6, S. 182]):
Das Wesen der Mathema- tik liegt in ihrer Freiheit. |
Die Grabstätte von Georg Cantor befindet sich auf dem vergleichsweise kleinen
Friedhof Giebichenstein und
dort unmittelbar an der östlichen Friedhofsmauer. Der Grabstein weist noch die Namen
und Lebensdaten seiner Ehefrau Vally (geborene Guttmann, *12.3.1849 +10.1.1923),
des früh verstorbenen Sohns Rudolf (*20.12.1886 +16.12.1899),
von Marie Stahl (geborene Cantor, *9.12.1881 +17.5.1920) und Else Cantor
(*8.?.18753) +27.3.1954)4)
aus.
Das Institut für Mathematik der Martin-Luther-Universität ist auf dem Weinberg-Campus
im Georg-Cantor-Haus, Theodor-Lieser-Straße 5, beheimatet. Im Eingangsbereich findet man
neben zwei Plaketten zu
August Gutzmer und
Albert Wangerin die hier
wiedergegebene Büste von Georg Cantor.
Der ebenerdige Bereich des Riebeckplatzes in der Nähe des Hauptbahnhofs ist mit einer Reihe
von Glasbildern gestaltet, die „Berühmte Hallenser“ würdigen. Dabei sind von
jenen nur die Augenpartien wiedergegeben, so auch von Georg Cantor, der hier als
„weltberühmter Entdecker der Mengenlehre“ bezeichnet wird, wobei man sofort bei
der Frage ist, ob Mathematik gottgegeben ist und von Menschen lediglich
„entdeckt“ wird oder ob mathematische Konzepte „erfunden“ werden.
Dieser Frage wird unter anderem in [3] nachgegangen (siehe auch [5]).
Selbstverständlich gibt es auch in Halle eine Georg-Cantor-Straße. Sie
verläuft in nordsüdlicher Richtung zwischen Mühlweg und
Breite Straße in der Nördlichen Innenstadt.
Referenzen
[1] | Kauperts Straßenführer durch Berlin: Cantorsteig | |
[2] | Kauperts Straßenführer durch Berlin: Fregestraße | |
[3] | Mario Livio: Ist Gott ein Mathematiker?, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2014 | |
[4] | Wolfgang Volk: Denkmal von Georg Cantor in Halle (Deutschland) | |
[5] | Wolfgang Volk: Mario Livio: Ist Gott ein Mathematiker?, Buchbesprechung | |
[6] | Ernst Zermelo (Hrsg.): Georg Cantor – Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts, Verlag von Julius Springer, Berlin, 1932 |
Bildnachweis
Straßenschild | Wolfgang Volk, Berlin, Mai 2019 | |
Gedenktafel und Denkmal | Wolfgang Volk, Berlin, Dezember 2004 | |
Grabstätte | Wolfgang Volk, Berlin, März 2008 | |
Büste | Wolfgang Volk, Berlin, August 2008 | |
Glasbild am Riebeckplatz | Wolfgang Volk, Berlin, Oktober 2009 |
1) Seit dem 450. Geburtstag Martin Luthers,
am 10. November im Jahr 1933 lautet der Name bis heute
Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg.
2) Gemäß der ISO-Norm
ISO 80000-2 bezeichnet
ℕ die Menge {0, 1, 2, 3, 4, …}. Die obige Menge {1, 2, 3, 4, …}
müsste normgerecht mit ℕ* benannt werden.
3) Der Monat des Geburtsdatums ist auf dem Grabstein
nicht mehr zu entziffern.
4) Die beiden letztgenannten Personen wie auch
Gertrud Vahlen (geborene Cantor), deren Name auf einem benachbarten Grabstein zu lesen ist,
könnten – insbesondere was die Lebensdaten betrifft – drei der vier
Töchter des Ehepaares Vally und Georg Cantor gewesen sein.