Mathematischer Ort des Monats Juli 2023
Brunnen für Michael Stifel in Annaburg
von Wolfgang Volk
Brunnen
Brunnen für Michael Stifel
 
Die Straßen-/Lagebezeichnung „Markt“ bezeichnet in Annaburg – im Dreiländereck von Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen gelegen – den zentralen, stattlichen etwa 200m langen und 50m breiten Platz, dessen südöstliches Ende die Schlossanlage abschließt und der sich nach Nordwesten zu einer einfachen Straße verjüngt, welche heute eine Verbindung zur Durchgangsstraße herstellt.
Zur Zeit als sich die Begebenheit abspielte, die nachstehend erläutert wird, hieß die Ortschaft Annaburg noch Lochau, 1339 erstmals urkundlich erwähnt [8]. Die Umbenennung erfolgte im Jahr 1573 zu Ehren der Kurfürstin Anna von Dänemark (und Norwegen, 1532–1585), die im Volksmund „Mutter Anna“ genannt und bereits 1548 von August (1526-1586) geehelicht wurde. August wurde 1553 nach dem Tod seines Bruders Moritz (1521-1553) Kurfürst von Sachsen.
Auf dem vom Schloss abgewandten Ende des „Marktplatzes“ befindet sich vor dem Pfarrhaus ein – von der Gestaltung her – außergewöhnlicher Brunnen. Dieser wurde vom Bildhauer Vinzenz Wanitschke (1932-2012) geschaffen und im Jahr 1996/71) errichtet. Auf einem aus Sandstein gefertigten Sockel mit einem vorgebauten Brunnenbecken stellt der bronzene Aufbau die zerberstende Weltkugel dar, umringt von allerlei Figuren, die überwiegend verzweifelte Personen, etliche Alltagsgegenstände aber auch Getier darstellen, sowie obenauf an exponierter Position ein mit einer Mönchskutte bekleideter Mann, ein Buch mit der linken Hand vor seine Brust haltend. Eine knapp über dem Sockel eingearbeitete Inschrift weist den folgenden Text aus:
1533
verkündete
Pfarrer
Michael Stifel
für Sonntag, den 19. Oktober2)
8 Uhr den
Weltuntergang
 
Inschrift
Die Inschrift am Brunnen
 
Michael Stifel kam um 1487 in Esslingen am Neckar zur Welt, besuchte die Lateinschule und trat später in das Augustinerkloster seiner Geburtsstadt ein, wo er 1511 die Priesterweihe erhielt. In der Klostergemeinschaft kam es 1522 zu Spannungen – es war die Zeit der Reformation, der Thesenanschlag Martin Luthers hatte 1517 stattgefunden – als er mit seiner Schrift „Von der Christförmigen rechtgegründeten leer Doctoris Martini Lutheri“ hervortrat. In der Folge flüchtete er zunächst in den Taunus bei Frankfurt am Main. Martin Luther (1483-1546) höchstselbst vermittelte ihn als evangelischen Prediger sukzessive an verschiedene Pfarreien unter anderem als Nachfolger von Franz Günther (-1528) in Lochau.
Inzwischen beschäftigte sich Michael Stifel auch mit Arithmetik und Zahlensymbolik (ein Beispiel ist in [2] und [6] angegeben), was im ausklingenden Mittelalter durchaus verbreitet war. Dabei versuchte man Texten – vorzugsweise der Bibel –, zusätzliche, verborgene Botschaften zu entlocken. Und so „berechnete“ Michael Stifel den Weltuntergang für den Sonntag, den 19. Oktober 1533 morgens um 8 Uhr!3) Er hätte das Ergebnis seiner „Berechnungen“ besser für sich behalten sollen. (Hierzu hatte ihm Matin Luther auch dringenst geraten.) Stattdessen soll er seine Pfarrgemeinde auf den bevorstehenden Weltuntergang eingeschworen haben – mit dem Ergebnis, dass die Leute überwiegend ihre Arbeit einstellten. Als der Weltuntergang nun (bekanntermaßen) nicht stattfand, wurde er festgenommen und verbrachte die nächsten vier Wochen in Schutzhaft in Wittenberg.
Auf diese Begebenheit bezieht sich die Gestaltung des Brunnens, auf sie geht auch die Vokabel „einen Stiefel rechnen“ mit der Bedeutung zurück, so lange zu rechnen, bis das Ergebnis den eigenen Vorstellungen entspricht.
Danach bekleidete Michael Stifel noch weitere Pfarrstellen, so in Holzdorf (1535-1547), in Brück (im heutigen Bundesland Brandenburg, 1554/5-1559) und zwischenzeitlich auch in Ostpreußen, wohin ihn das Schicksal infolge des Schmalkaldischen Kriegs 1547 verschlagen hatte.
 
Brunnen mit dem Pfarrhaus
Der Brunnen mit dem Pfarrhaus und der Kirche (links im Hintergrund teilweise zu sehen)
 
Diese vorstehend beschriebenen Berechnungen Michael Stifels sind keineswegs geeignet, den Brunnen in Annaburg als mathematischen Ort einzuordnen. Vielmehr befasste sich der Pfarrer nun ernsthaft und zunächst autodidaktisch mit den mathematischen Werken seiner Zeit. In [9] werden hier das erste deutschsprachige Algebrabuch „Die Coß“ von Christoph Rudolff (um 1500-vor 1543)4) und die „Elemente“ des Euklid in der lateinischen Fassung von Campanus von Novara (um 1220-1296) hervorgehoben; in [4] werden noch weitere Werke namhafter Mathematiker und Rechenmeister genannt. 1541 schrieb sich M. Stifel zum Studium der Mathematik an der Universität Leucorea (vergleiche auch [7]) in Wittenberg ein [9].
In den 1540er Jahren erschienen von ihm drei Bücher mit mathematischen Inhalt, darunter auch sein Hauptwerk Arithmetica integra, das 1544 in Nürnberg gedruckt wurde, das damals bekannte Wissen zu Arithmetik und Algebra zusammenfasste, zusätzlich Regeln für das Potenzieren enthielt und sehr populär wurde. Mit seinem Vorschlag, von den Termen einer geometrischen Reihe zu deren Exponenten überzugehen, wird der Grundgedanke der Rechnung mit Logarithmen angesprochen. (Dieses Werk erschien 2007 erneut und zwar in deutscher Übersetzung von Eberhard Knobloch und Otto Schönberger [5].) Im Jahr 1553 gab Michael Stifel das Buch „Die Coß“ von Christoph Rudolff, das ihm einst als Einstieg in die Mathematik diente, in überarbeiteter und bedeutend erweiteter Fassung in Königsberg erneut heraus (siehe [9]).
Vieles bezüglich der mathematischen Leistungen und des diesbezüglichen Engagements Michael Stifels bleibt im Ungewissen, manches erscheint auch unvereinbar; insbesondere, weil er noch bis ins Jahr 1559 Pfarrstellen bekleidete (siehe die Ausführungen weiter oben). Es ist belegt, dass Michael Stifel seit dem Jahr 1559 die erste Professur für Mathematik an der Universität Jena innehatte. Letztere wurde 1558 gegründet und war unter den Bezeichnungen Salana und Collegium Jenense bekannt. (Heute trägt sie den Namen Friedrich-Schiller-Universität Jena.)
 
Brunnen mit Schloss
Der Brunnen mit der Schlossanlage
 
Unweit des Brunnens steht seit 2001 ein Maibaum, mit etwa 20 Tafeln zu lokalen Vereinen und Organisationen [3] – ein in diesen Breiten eher ungewöhnlicher Anblick. Unmittelbar nordöstlich des Schlosses befindet sich die Grundschule von Annaburg, die seit dem 20. Juni 2017 den Namen Grundschule Michael Stifel trägt [9]. Das am „Markt“ gelegene Amtshausmuseum von Annaburg würdigt den Pfarrer und Mathematiker Michael Stifel mit einem Teil seiner Ausstellung.
 

Referenzen

[1]   Adam-Ries-Bund: Algebra-Handschrift: Die Coß von Adam Ries
[2]   Florian Freistetter: Der geläuterte Querdenker, spektrum.de
[3]   Frank Grommisch: Volksfest der Vereine: Ganz Annaburg feiert um großen Maibaum, Mitteldeutsche Zeitung, 2.5.2001
[4]   Karin Reich: Stifel, Michael, Neue Deutsche Biographie 25 (2013), S. 337-338
[5]   Michael Stifel: Vollständiger Lehrgang der Arithmetik, übersetzt und herausgegeben von Eberhard Knobloch und Otto Schönberger, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2007, ISBN: 978-3-8260-3561-6
[6]   Heinz Klaus Strick: Michael Stifel (1487–1567), spektrum.de
[7]   Wolfgang Volk: Tafeln für Giordano Bruno, Joachim von Lauchen, Kaspar Peuker und Johann Daniel Titius in der Lutherstadt Wittenberg
[8]   Wikipedia: Annaburg
[9]   Wikipedia: Michael Stifel
 

Bildnachweis

alle Fotos   Wolfgang Volk, Berlin, August 2022
 

1) Die Angaben in [8] und [9] unterscheiden sich geringfügig.
2) Der in der Inschrift abgekürzte Monatsname ist hier selbstverständlich ausgechrieben.
3) In [4] wird allerdings in Zweifel gezogen, dass der prognostizierte Weltuntergang auf „Berechnungen“ fußte. Inwieweit sich Eingebungen vom eigenen Tun trennen lassen, muss hier offen bleiben.
4) Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Werk von Adam Ries (1492/3-1559), das allerdings lediglich als Manuskript vorliegt (siehe [1]). Erst 1992 wurde dieses Werk als Faksimile und mit Kommentaren versehen von Wolfgang Kaunzner und Hans Wußing in zwei Bänden bei der Teubner Verlagsgesellschaft herausgegeben.