Mathematischer Ort des Monats August 2022
Der Pfad der Visionäre in Berlin-Kreuzberg
von
Wolfgang Volk
Im südlichsten Teil der Friedrichstraße, der Fußgängerzone zwischen
dem Mehringplatz und der Franz-Klühs-Straße befindet sich der
PFAD DER VISIONÄRE – ZEICHEN FÜR
EUROPA1). Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine
Installation von (aktuell) 33 Granitplatten, die in Dreierreihen in den Boden eingelassen sind.
Am südlichen wie auch am nördlichen Ende befinden sich
jeweils drei neutral gehaltene Bodenplatten, wie zum Beispiel die nachstehend abgebildete
mit dem Willkommensgruß „Willkommen auf dem Pfad der Visionäre“ in
allen in den Staaten der Europäischen Union (EU) gesprochenen Amtssprachen (Stand
Mai 2022).
Dazwischen sind 27 Platten in den Boden eingelassen, die jeweils einem Staat der
Europäischen Union zugeordnet sind. Diese Bodenplatten sind in der Reihenfolge des
Beitritts zeilenweise angeordnet (siehe [4, Abschnitt 7]) und mit der Flagge des jeweiligen
Staats versehen.
So sind die ersten beiden (Dreier-)Reihen dieser Platten den Gründungsstaaten der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Keimzelle der
Europäischen Gemeinschaften und heutigen Europäischen Union (EU)
vorbehalten (siehe [4]):
den Republiken Frankreich, Deutschland und Italien sowie den BENELUX-Staaten, den
Königreichen Belgien wie auch den Niederlanden und das Großherzogtum Luxemburg.
Alle Platten. die den einzelnen Staaten gewidmet sind, sind mit einem Zitat einer
bedeutenden Persönlichkeit – meist aus dem betreffenden Staat –
in den Sprachen deutsch, der/n jeweiligen Landessprache(n) und englisch – als kleinster
gemeinsamer Nenner – versehen.
Aus diesen beiden vorderen Reihen rekrutieren sich auch die zu Zitierenden,
von denen sich ein Bezug zur Mathematik ableiten lässt. Hinzu kommt die Tafel für
Kroatien mit einem Zitat des Physikers, Philosophen und Schriftstellers Ivan Supek.
Die Bodenplatte, die der Bundesrepublik Deutschland gewidmet ist, ist mit einem Zitat des
Philosophen
Immanuel Kant (1724-1804) versehen:
„Handle stets so,
dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne.“
Unbestreitbar spielt die Mathematik in Kants Schriften eine wichtige Rolle. So schreibt er in
seiner „Kritik der reinen Vernunft“ [1, S. 7]:
Mathematik und Physik sind die
beiden theoretischen Erkenntnisse der Vernunft, welche ihre Objecte a priori bestimmen sollen,
die erstere ganz rein, die zweite wenigstens zum Theil rein, dann aber auch nach Massgabe anderer
Erkenntnissquellen als der der Vernunft.
I. Kant spendiert noch knapp eine weitere Seite seiner Vorrede zur 2. Auflage dem Thema Mathematik.
Allerdings muss man auch konstatieren, dass I. Kant keine weitergehenden Kenntnisse in
Mathematik besaß und sich auch erst später herausstellte, dass es auch jenseits der
Euklidischen Geometrie andere
Geometrien gibt, die sich der Anschauung durchaus entziehen, und sich die Mathematik von der
Anschauung lösen und zu einer deduktiven Wissenschaft entwickeln wird.
Die Diskussion um I. Kants Verhältnis zur Mathematik, sein Vermächtnis und wie das
Spannungsfeld von Philosophie und Mathematik zu betrachten sei
dauert bis in die heutigen Tage an (siehe [2], [3]).
Mit
Gaius Julius Cäsar
(100-44 v. Chr.) wird man wohl weniger feingeistige als eher machthungrige Gedanken und
Ansprüche verbinden. Und in dieser martialisch aber durchaus anerkennenden Hinsicht
fällt auch das Zitat auf der dem Staate Belgien zugeordneten Tafel aus:
„… von allen
Galliern sind die Belgier die tapfersten …“
Andererseits führte er im Jahr 45 vor Christus den nach ihm benannten
Julianischen Kalender ein.
Zuvor war im Römischen Imperium ein am Mondlauf orientierter Kalender in Gebrauch, der
gelegentlich dem Sonnenjahr durch einen Schaltmonat angepasst wurde. Ob die Einführung eines
auf dem Sonnenlauf basierenden Kalenders einem mathematisch veranlassten Fortschritt gleichkommt,
muss dahingestellt bleiben! Aber immerhin hat es seitdem erst einer weiteren Kalenderreform
bedurft, bei der übrigens zur Erarbeitung etliche Mathematiker involviert waren –
stellvertretend seien hier
Christoph Clavius (1538-1612) und
Johannes Müller (1436-1476,
nach seiner Heimatstadt Königsberg in Franken Regiomontanus genannt) erwähnt.
Die Tafel der Niederlande ziert eine Aussage des Philosophen
Baruch de
Spinoza2) (1632-1677):
„Friede ist nicht
Abwesenheit von Krieg, sondern eine Tugend, die einer Stärke des Charakters entspringt.“
Baruch de Spinoza war Sohn jüdischer Glaubensflüchtlinge aus Portugal. Nachdem er
überraschend mit 44 Jahren verstarb bereiteten Freunde Manuskripte seines Nachlasses zur
Veröffentlichung vor, darunter auch seine Ethik, die – durch
René Descartes inspiriert – in der Form einer mathematischen
Abhandlung mit Definitionen, Axiomen, Lehrsätzen und so fort verfasst ist.
Die Tafel zu Kroatien ziert eine Aussage des Physikers, Philosophen und Schriftstellers
Ivan Supek (1915-2007):
„Am Rande des Abgrunds
müssen wir den Weg verlängern.“
Ivan Supek studierte Mathematik, Physik, Biologie und Philosophie überwiegend in Zürich
(Schweiz). Sein Interesse an
Quantenphysik und damit verbundene philophische
Fragen ließen ihn nach Leipzig wechseln, wo er 1940 bei
Werner Heisenberg in Physik promovierte.
Die Quantenmechanik ist ein äußerst mathematisch durchdrungener Zweig der Theoretischen
Physik (siehe [5]).
Der Pfad der Visionäre wurde am 14. Mai 2022, dem Samstag, der dem
Europatag der Europäischen Union (9. Mai)
folgte, eingeweiht. Zu Beginn der Veranstaltung waren die Granitplatten durch jeweils eine
Europaflagge verhüllt – auf selbigen stand jeweils ein mobiler Mast mit der
betreffenden Nationalflagge in vertikaler Aufhängung. Die Enthüllung der Bodenplatten
wurde später durch Schüler der nahegelegenen
Galilei-Grundschule (selbstverständlich
mit Unterstützung des Lehrpersonals) vorgenommen.
Vor der eigentlichen Enthüllung fand noch ein Bühnenprogramm mit allerlei Redebeiträgen
statt – Vertreterinnen und Vertreter der Botschaften waren zahlreich vor Ort –
unter anderem auch mit einem Interview mit dem Initiator des Pfads der Visionäre,
dem Künstler
Bonger Voges, und der Vorsitzenden des Trägervereins
Kunstwelt e. V.,
Kristijana Penava.
Vom Pfad der Visionäre gab es im Jahr 2006 bereits eine Probeinstallation.
Zu dieser gehörte – da damals Großbritannien noch der Europäischen
Union angehörte – auch eine Bodenplatte für das Vereinigte Königreich
mit einem Zitat, das Sir
Isaac Newton
(1643-1727)3) zugeschrieben wird:
„Wenn ich weiter als andere
gesehen habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand.“
Isaac Newton hat unabhängig und etwa zeitgleich mit
Gottfrried Wilhelm Leibniz
(1646-1716) die
Infintesimalrechnung
(Differential- und Integralrechnung), eine – insbesondere in den technischen
Anwendungen – nicht mehr wegzudenkende mathematische Errungenschaft,
entwickelt.4)
Referenzen
[1] | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hrsg: Benno Erdmann, Verlag von Leopold Voss, Hamburg und Leipzig, 1889 | |
[2] | Darius Koriako: Kants Philosophie der Mathematik, Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg, 1999, IsBN 978-3-7873-1429-4 | |
[3] | Arno Schubbach: Kants Konzeption der geometrischen Darstellung. de Gruyter, Kant-Studien 108,1 (2017), S. 19-54 | |
[4] | Wikipedia: Geschichte der Europäischen Union | |
[5] | Wikipedia: Mathematische Struktur der Quantenmechanik |
Bildnachweis
Tafel zu Großbritannien | Wolfgang Volk, Berlin, April 2007 | |
alle anderen Fotos | Wolfgang Volk, Berlin, Mai/Juni 2022 |
1) Es ist der Wunsch des Künstlers
dass der Name stets in Großbuchstaben wiedergegeben wird.
2) In den Niederlanden wird sein Vorname
Benedikt verwendet.
3) Dass manchmal 1642 und manchmal 1643 als
Geburtsjahr von Isaac Newton genannt wird, ist dem Umstand geschuldet, dass er nach dem
Julianischen Kalender (siehe oben) am 25. Dezember 1642 geboren wurde, was dem 4. Januar
1643 des Gregorianischen Kalenders entspricht.
4) Die Bodenplatte zu Großbritannien
lenkte ursprünglich den Fokus des Autors auf den Pfad der Visionäre als Ort
mit mathematischem Bezug.