Mathematiker des Monats März 2024
Johann Carl Gottlieb Schulze (1749-1790)
von Friedhelm Schwemin
 
Johann Carl Schulze gehörte sicherlich nicht zu den Sternen erster Größe am mathematischen Himmel Berlins, ist aber bis heute bei vielen Mathematikhistorikern durch seine logarithmischen und trigonometrischen Tafeln bekannt. Seine erste Logarithmentafel bekam der vierzehnjährige Carl Friedrich Gauß von seinem Herzog 1791 geschenkt: Es war die von J. C. Schulze1).
Fragment eines Briefs an J. H. Lambert von Johann Carl Gottlieb Schulze
Ausschnitt eines Briefs an Johann Heinrich Lambert2)
 
Johann Carl Gottlieb Schulze – Namen und Daten tauchen in der zeitgenössischen und auch heutigen Literatur in verschiedenen Varianten auf – wurde am 5. April 1749 in Berlin geboren, wobei wir mit guten Gründen auf die Angaben von Erik Amburger (1907–2001) vertrauen dürfen3), auch was sein Todesdatum betrifft. Interessant ist schon die Herkunft seiner Eltern: Der Vater, Johann Gottfried Schulze, war ein Salzburger Glaubensflüchtling und die Mutter – Emilie Charlotte Corvisier – stammte aus einer verarmten Hugenottenfamilie, die ursprünglich in Sainte-Menehould im heutigen Departement Marne beheimatet war.
Seine recht unbemittelten Eltern schickten ihren Sohn auf die zur französischen Kolonie gehörende École de Charité4), wo er die nötigsten Kenntnisse wie Schreiben, Lesen und Rechnen erlangte, aber schon bald hernach aufgrund seiner Leistungen kostenlosen Unterricht in französischer Sprache und Geografie erhielt. Hier erwachte auch sein Interesse an praktischer Bautechnik und Mechanik. Um in der Zukunft seinen Lebensunterhalt zu sichern, empfahl auf Anfrage der Eltern der damalige Direktor des französischen Gymnasiums Jean Pierre Erman (1735–1814) eine kaufmännische Lehre beim Handelshaus der Brüder Jacob am Mühlendamm, die J. C. Schulze als fünfzehnjähriger im Jahre 1764 antrat. Die knapp bemessene Freizeit verbrachte er mit schwärmerischen Beobachtungen des Sternenhimmels, teilweise auch in Gemeinschaft mit dem aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie stammenden und früh verstorbenen späteren Jura-Studenten Christian Carl Gottlob Eisenhardt (1753–1776), der ihn auch in die Anfangsgründe der Mathematik einführte. Nach dem Ende seiner Lehrzeit verblieb er zunächst bei den Jacobs, sah aber dort nicht unbedingt seine Zukunft, sondern eher im Baufach oder in der Astronomie.
Weitere Kontakte mit Erman, auch mit Vorzeigen von ersten mathematisch-astronomischen Ausarbeitungen, veranlassten diesen, Kontakt mit Johann Heinrich Lambert (1728–1777) aufzunehmen. Lambert vermittelte Schulze daraufhin im Frühjahr 1772 an den Oberbaudirektor Johann Bouman (1706–1776), damit er sich dort ins Baufach einarbeiten möge. Schulze gab nun die Anstellung bei den Jacobs auf, erhielt Unterstützung durch die französische Kolonie und konnte nebenbei auch Latein lernen. Die Hoffnung dereinst als Nachfolger von Bouman wirken zu können zerschlug sich aber schon bald, da dieser seinen eigenen Sohn bevorzugte.
Ende 1772 muss Schulze den durch Lambert gerade von Hamburg nach Berlin berufenen Johann Elert Bode (1747–1826) kennengelernt haben. Bode, Schulze und Eisenhardt vereinte die Leidenschaft zur Astronomie und speziell die dabei erforderlichen Rechnungen. Nach eigener Aussage von Bode, war er es, der Schulze an Lambert vermittelte. Letzterer wiederum hat Schulze als Vertreter und zur Unterstützung von Bode bestimmt sowie diesen zunächst mit der Berechnung des Kalenders für Westpreußen beauftragt. Bode hingegen hatte zuerst den schlesischen Kalender zu bearbeiten. Lambert setzte daraufhin mit den beiden seine zwei großen Pläne um, nämlich die Herausgabe des berühmten Berliner Astronomischen Jahrbuchs (BAJ), (erschien ab 1774) und der dreibändigen Sammlung astronomischer Tafeln (erschien 1776); an beiden Projekten hatte Schulze großen Anteil. Am Ephemeridenteil des BAJ arbeitete er zwischen 1775 und 1778 mit und an der Tafelsammlung betrug sein Anteil, wenn man die Honorarzahlungen als Maßstab nimmt, immerhin 36 Prozent. Auch etwa 27 Abhandlungen und Aufsätze im BAJ zwischen 1775 und 1780 trug Schulze bei. Als Bode ab 1781 das BAJ in Eigenregie übernahm, hörte die Mitarbeit Schulzes auf; beide waren aus verschiedenen Gründen miteinander schon länger regelrecht zerstritten.
Ab Anfang 1777 wurde Schulze von Johann III Bernoulli (1744–1807), dem eigentlichen akademischen Astronomen, als Gehilfe auf der Sternwarte angenommen und bezog bei diesem eine Wohnung im Akademiehaus gegenüber der Sternwarte. Bode konnte weiterhin nur aus seiner Wohnung in der Straße Unter den Linden beobachten und beschäftigte sich sowieso hauptsächlich mit seinen populären schriftlichen Arbeiten. Ob Schulze von der Akademie eine offizielle Bestallung als zweiter akademischer Astronom erhielt, muss durch weitere Forschung geklärt werden.
Nach dem frühen Tode von Lambert im Spätsommer 1777 wurde ein Nachfolger als Mitglied der Akademie gesucht. Schon Anfang April 1775 hatte Jean de Castillon (1708–1791) Schulze vorgeschlagen, war aber damals am Votum von Joseph Louis Lagrange (1736–1813) gescheitert, der Bode bevorzugt haben soll. Im zweiten Anlauf aber hatten sich nunmehr Johann Georg Sulzer (1720–1779) und Johann Bernhard Merian (1723–1807), angeblich diesmal mit Unterstützung von Lagrange, beim preußischen König für Schulze eingesetzt und Friedrich II. stimmte etwas widerwillig zu. Am Ende seiner Kabinettsordre vom 5. Oktober 1777 schrieb er (übersetzt): „Im Übrigen fällt es mir schwer zu glauben, dass er so geschickt ist wie sein Vorgänger.“ Jedenfalls wurde Schulze am 16. Oktober zum ordentlichen Mitglied der mathematischen Klasse der Akademie gewählt und erhielt wenige Monate später einen Großteil der Lambertschen Pension zugesprochen. Bis 1783, das heißt bis zum Antritt seiner neuen Stelle im Baufach, veröffentlichte er zehn astronomisch-mathematische Abhandlungen in den Akademie-Mémoires.
Wie viele Berliner Gelehrten, hielt auch Schulze öffentliche Privatvorlesungen, in seinem Fall über reine und angewandte Mathematik. Schulze unterstützte Lazarus Bendavid (1762–1832) bei dessen mathematischen Anfängen, der ihm daraufhin aus Dankbarkeit seine Schrift „Versuch einer logischen Auseinandersetzung des Mathematischen Unendlichen“ (Berlin 1789) widmete. In nun gesicherter Stellung erfolgte am 1. März 1778 Schulzes Eheschließung mit Sophie Eleonore Kessler, mit der er zwei Töchter hatte.
In dieser Zeit erschien seine wichtigste und bis heute bekannte Monografie „Neue und erweiterte Sammlung logarithmischer, trigonometrischer […] Tafeln“ (deutsch-französischer Paralleltext, 2 Bände, Berlin 1778), die als bedeutendsten Abschnitt im ersten Band (S. 189–259) eine Tafel „Natürliche oder hyperbolische Logarithmen bis auf 48 Decimalstellen“ enthielt. Diese mit unsäglicher Mühe und Geduld berechnete Tafel hatte ihm (über Lambert vermittelt) der in niederländischen Diensten stehende, aus Danzig gebürtige, Artillerie-Offizier Isaac Wolfram (ca. 1725-ca. 1787) zur Verfügung gestellt. Weitere eigenständige Publikationen waren:
  • Taschenbuch für diejenigen, so gründliche Anwendungen der Meßkunst zu machen sich vorsetzen […], 2 „Hefte“, Berlin 1782 und 1783
  • Kurze Anleitung zur ebenen Dreyeck-Meßkunst nebst nöthigen Tabellen […], Berlin 1784; von der noch zwei posthume Ausgaben 1794 und 1818 erschienen.
Titelblatt des Tabellenwerks von Johann Carl Gottlieb Schulze
Titelseite des Tabellenwerks
 
Mit Kabinettsordre vom 20. Juni 1781 erhielt Schulze vom König ein neues Wirkungsfeld, nämlich als Professor unter anderem für Mathematik für die Offiziere des Feldartillerie-Corps; eine Stellung, die er – vermutlich aus gesundheitlichen Gründen – bereits nach sechs Jahren wieder aufgab, wie auch wohl allen anderen Arbeiten. Friedrich der Große gewährte ihm auch einen Zuschuss von 7-8000 Taler für den Bau eines eigenen Hauses an der Köpenicker Straße in Nähe des Schlesischen Tores. Ab 1783 beteiligte er sich auch – vermutlich auf Bitten von Erman – an der Überarbeitung der Statuten für die Organisation der Kirche der französischen Kolonie, zu der er inzwischen übergetreten war. Daneben übernahm er auch Bau- und Reparaturangelegenheiten von Gebäuden der Gemeinde.
Doch nicht genug der Arbeiten; am 2. September 1783 wurde Schulze nach dem Tode des Oberbaurats Friedrich Holsche (1743–1783) zum Mitglied des Oberbaudepartements und außerordentlicher Oberbaurat und wenige Monate später am 25. Mai 1784, nach dem Tode von George Ludwig Schirrmeister (1716–1784), definitiv zum Oberbaurat ernannt; ob sofort oder später mit dem Prädikat „Geheimer“ ist unklar. Im Gegensatz zu Lambert, der auch, aber mehr als ein Amt ohne Funktion (Sinekure), Oberbaurat war, sollte für Schulze diese Ernennung mit praktischer Arbeit und häufigen Reisen in den Sommermonaten verbunden sein. Er war für Wasserbauten in den östlichen preußischen Provinzen, besonders an der Oder und der Warthe, zuständig, was vollends seine Gesundheit ruinierte, und dann auch am 9. Juni 1790 um sechs Uhr in Berlin zu seinem Tod an einer Lungenentzündung führte. Er hinterließ seiner Witwe ein beachtliches Vermögen von mehr als 4000 Taler. Nach seinem frühen Tod heiratete diese den Oberamtmann Joachimi in Mühlenbeck (heute Landkreis Oberhavel). Sein Nachfolger als Oberbaurat wurde Philipp Bernard François Berson (1754–1835).
Nach Aussagen aller zeitgenössischen Quellen war Schulzes Charakter problematisch, bei allem Talent und Genie war er undiplomatisch und neigte – wie viele Autodidakten – zu Stolz und Überheblichkeit. Selbst in dem kurzen Nachruf in den Berlinischen Nachrichten finden sich Anspielungen wie: „… seine ungeschminkte Redlichkeit und grades Betragen, das alle Umwege hassete …“. Erman spricht in seiner Éloge vor der Akademie von Anschuldigungen Schulzes gegen Lambert, dass dieser ihn bewusst mit endlosen und mühsamen mechanischen Rechnungen überlastet habe, um seine Laufbahn einzuschränken, und Carlo Giovanni Maria Denina schreibt gar von einer extremen Gier nach Titeln und Gewinn, die ihm zu früh sowohl Vermögen als auch Tod bescherten. Das Haupt der Berliner Spätaufklärer, Friedrich Nicolai (1733–1811) urteilte über ihn: „Sein Verdienst als Mathematischer Gelehrter hat sich wohl nur hauptsächlich auf die Eigenschaft eines sehr mühsamen und genauen Rechners beschränkt.“ Und als Bode 1786 in die Akademie aufgenommen werden sollte, sagte Schulze über ihn, dass er „blos zur Verfertigung des schlesischen Kalenders und Berechnung des Astronomischen Jahrbuchs aus Tabellen ist gebraucht worden.“ Andererseits schreibt ein schweizer Gelehrter 1776 bei seinem Besuch in Berlin: „Die geschickten Astronomen Bode u. Schultze hab ich auch oft besucht. Letzter ist besonders ein sehr bescheidner junger Mann, u. weil er sich weit mehr auf die Analysin legt als jener, so ist auch ungleich mehr von ihm zu erwarten.“
 

Referenzen (Auswahl)

[1]   Erik Amburger: Die Mitglieder der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1700-1950, Akademie-Verlag, Berlin 1950, S. 19, 50
[2]   Johann Elert Bode: Entwurf einer litterarischen Geschichte der Königlichen Akademischen Sternwarte, siehe [8] und [9]
[3]   Hugo Clemens: Die älteren Ephemeridenausgaben der Berliner Akademie und die Begründung des Astronomischen Jahrbuchs, in: Festschrift zur Feier des siebenzigsten Geburtstages des Herrn Professor Dr. Wilhelm Foerster (Königliches Astronomisches Recheninstitut zu Berlin, Veröffentlichungen 20), Berlin, 1902, S. 171-196, hier 190-192
[4]   Carlo Denina: Schulze (Jean Charles), in: La Prusse littéraire sous Fréderic II, Tome 3, Berlin, 1791, S. 307-311
[5]   Jean Pierre Erman: Éloge de Monsieur Schultz, in: Mémoires de l‘Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres 1794 et 1795, Berlin 1799, Histoire S. 55-70
[6]   Friedhelm Schwemin: Johann Elert Bode (1747–1826), der Astronom der Berliner Aufklärung – Leben und Werk in dokumentarischer Darstellung, Wehrhahn Verlag, Hannover, 2022 (erschienen als Bd. 28 der Reihe „Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800“)
[7]   Johann George Sulzer: Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgesetzt, Aus der Handschrift abgedruckt, mit Anmerkungen von J. B. Merian und F. Nicolai, Berlin und Stettin, 1809, S. 61-67
[8]   Roland Wielen und Ute Wielen: Johann Elert Bodes Geschichte der Berliner Sternwarte bis zum Jahr 1811, Edition der Handschrift, Heidelberg, 2010, S. 66f
[9]   Roland Wielen und Ute Wielen: Supplement zu „Johann Elert Bodes Geschichte der Berliner Sternwarte bis zum Jahr 1811“ , Scans der Handschrift und zugehöriger Dokumente, Heidelberg, 2010
 

Bildnachweis

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1) Hier kann nur eine gedrängte Übersicht zu Leben und Werk von J. C. Schulze gegeben werden; zu einer gründlichen Darstellung ist das Studium diverser Archivalien im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin erforderlich.
2) Da kein Porträt von Johann Carl Schulze überliefert ist, wird hier zur grafischen Ausgestaltung ein Ausschnitt seines Briefs an J. H. Lambert vom 23. Januar 1774 wiedergegeben.
3) mit einer Ausnahme: Während in [1] der zweite Vorname mit „Karl“ ausgewiesen ist, jedoch beide der hier wiedergegebenen Schriftstücke die Schreibung mit „C“ nahelegen, soll hier Letzterem gefolgt werden.
4) Armenschule. In der 1885 in Berlin erschienenen Monografie von Eduard Muret Geschichte der Französischen Kolonie in Brandenburg-Preußen, unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Gemeinde; aus Veranlassung der Zweihundertjährigen Jubelfeier am 29. Oktober 1885 ist auf Seite 67 zu lesen:
Die berliner Gemeinde besaß freilich […] ein Waisenhaus, doch fehlten ihr die Mittel, für diejenigen armen Kinder zu sorgen, deren noch lebende Eltern nicht imstande waren, dieselben zu erhalten und zu erziehen. Der Notstand war in Berlin während der ersten Jahre der Regierung Friedrichs, infolge der eingestellten Bauthätigkeit und des Krieges sehr groß, besonders in der Friedrichstadt. Da faßte man auf Anregung des Predigers d'Angiéres den Entschuß, eine Armenschule (École de Charité) zu gründen, die nicht nur der Jugend den zum späteren Fortkommen nötigen Elementarunterricht erteilen, sondern auch den Bedürftigsten von ihnen eine Stätte der Erziehung sein sollte. Mittelst einer durch den hochverdienten Prediger d'Anières veranlaßten Subskription und durch Kirchenkollekten gelang es, die geplante Anstalt am 12. september 1747 mit 12 Kindern in der Jägerstraße zu eröffnen, während die eigentliche Schule etwa 100 Kinder aufnahm. Da die neue Schöpfung sich durch die Thätigkeit der erwählten Direktion und durch die Mildthätigkeit der Gemeindeglieder als lebensfähig erwies, so erteilte ihr Friedrich II. 1752 die königliche Bestätigung. […]