Mathematiker des Monats Oktober 2017
Lothar Collatz (1910-1990)
von
Ulrich Eckhardt
Lothar Collatz begann seine wissenschaftliche Karriere in der Hitlerzeit. Er hatte
sich unter dem Einfluss von
Richard Courant und
Richard von Mises der
„angewandten“, insbesondere der numerischen Mathematik zugewandt [1]. Unter
Anleitung von R. von Mises bearbeitete er in Berlin eine Dissertation über Differenzenverfahren
für Differentialgleichungen1), doch nach der
„Machtergreifung“ mussten von Mises und Courant Deutschland verlassen. Collatz musste
dann zwei „Ersatzgutachter“
(Alfred Klose und
Erhard Schmidt) für seine Dissertation finden.
Nach seiner Habilitation im Jahre 1937 nahm er eine Stelle als Assistent am Institut
für Technische Mechanik in Karlsruhe an. Er hatte diese Stelle zunächst als
Notlösung angesehen, da es damals nicht leicht war, eine Stelle in der Mathematik
zu finden, aber er gewann dann „viel Freude an der technischen Mechanik“ [1].
Im Jahre 1943 erhielt er einen Ruf auf ein Ordinariat für Mathematik an
der Technischen Hochschule Hannover.
Das kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges erschienene Buch Eigenwertprobleme
und ihre numerische Behandlung und auch das Buch Differentialgleichungen
für Ingenieure, welches 1949 erschien, tragen deutlich die
Spuren seiner Begeisterung für die
Technische Mechanik.
Beide sind wahre Fundgruben
für schöne Anwendungsbeispiele und Übungsaufgaben. Bemerkenswert
ist im letztgenannten Buch auch Abschnitt V, x3, in dem Näherungsverfahren
zur Lösung gewöhnlicher Differentialgleichungen behandelt werden. Einmal
ist vom heutigen Standpunkt erstaunlich, dass dieses so wichtige Gebiet unter
„Ergänzungen“ eher am Rande auf zehn Seiten abgehandelt wird. Zudem gibt
Collatz der Versuchung nicht nach, auf seine Dissertation einzugehen, in der er
ja Differenzenverfahren behandelt hatte. Der Stand der Rechentechnik erlaubte
zu dieser Zeit noch keine komplexen numerischen Verfahren in der Ingenieurspraxis
und das Buch ist geschrieben worden, um dem Ingenieur Anleitung zum
Handeln zu geben und nicht als Selbstdarstellung des Verfassers. Im Jahre 1951
erschien dann sein Buch über die Numerische Behandlung von Differentialgleichungen,
welches nun vollständig dem Gebiet der Numerik gewidmet war. Dieses
Buch erschien im rechten Moment und war über Jahrzehnte hinweg für zahlreiche
Ingenieure und Physiker ein unentbehrliches Nachschlagewerk.
Unmittelbar nach Beendigung des Krieges hatte Lothar Collatz versucht, die
durch Hitler und den Krieg abgebrochenen Kontakte zu den im Ausland lebenden Kollegen
wieder aufzunehmen. Bereits im Sommer 1945 traf er sich mit
John Todd [2, Abschnitt 1.3].
In den Folgejahren erneuerte er seine Bekanntschaft mit Mathematikern,
die in die USA emigriert waren und nahm neue Kontakte auf.
Im Jahre 1952 folgte er einem Ruf an die Universität Hamburg. Um den Anschluss an
die moderne Rechentechnik zu finden, sorgte er dort im Jahre 1958 für die
Beschaffung des ersten Großrechners. Besonders hervorzuheben ist, dass er nicht
nur Kontakte zu den USA knüpfte, er engagierte sich auch intensiv in den
Partnerschaften der Universität Hamburg zu den Kollegen des damaligen
„Ostblocks“, was damals weder einfach noch selbstverständlich war.
Ganz besonders versuchte er, die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten nicht
abbrechen zu lassen. Auch dies ein schwieriges Unterfangen, welches von den Politikern
der beiden beteiligten Gebiete nicht immer mit Wohlwollen betrachtet wurde.
Allen, die mit Lothar Collatz zu tun hatten, ist er als ein außerordentlich
sympathischer Mensch in Erinnerung. Wo auch immer er die Möglichkeit sah,
wanderte er mit seinen Kollegen, mit seinen Studentinnen und Studenten. Dabei
zeigte sich ein liebenswerter Mensch, der Scherze und ganz besonders Spiele liebte
[2, Abschnitt 7 bis 10].
Es ist nicht leicht, die wissenschaftliche Bedeutung von Lothar Collatz in wenigen Worten
zu würdigen. Dass er ein hervorragender und bedeutender Vertreter
unseres Faches gewesen ist, zeigen seine zahlreichen wissenschaftlichen Beiträge
und nicht zuletzt die sieben Ehrenpromotionen namhafter Universitäten sowie
die Ehrenmitgliedschaften, die ihm von wissenschaftlichen Vereinigungen verliehen
wurden [2, Abschnitte 2.2 und 2.3].
Es ist das Schicksal des angewandten Mathematikers – und ein solcher war
er par excellence – dass seine wissenschaftlichen Beiträge
„Zeitwert“ haben. Neue Entwicklungen in den Anwendungen und neue Methoden der Computernutzung
machen ganze Gebiete der angewandten Mathematik und der numerischen Mathematik
obsolet. Die Anwender schauen heute nicht mehr in den Büchern von
Collatz nach, wenn sie eine Aufgabe zu lösen haben, sie benutzen häufig vorgefertigte
Softwareprodukte. Die Art der angewandten Mathematik, die Collatz
mit Meisterschaft beherrschte, den klugen und „listigen“ Umgang mit dem Problem
wird heute von fabrikmäßigem Umgang mit den Problemstellungen abgelöst.
Gerade die Notwendigkeiten der computermäßigen Behandlung von Aufgabenstellungen
haben ihn zur Beschäftigung mit der Funktionalanalysis und
insbesondere der Monotonie inspiriert. So erwartete er etwa bei der Analyse der
Rundungsfehlerfortpflanzung auf Rechenanlagen Hilfe von der Funktionalanalysis [1].
Man muss sagen, dass sich diese Erwartung nicht in dem erwünschten Maße erfüllt hat.
Man sucht auch vergebens nach einem „Satz von Collatz“. Allerdings gibt es
ein „Problem von Collatz“, das sogenannte 3n+1-Problem, welches noch immer
nicht gelöst werden konnte. Dieses hübsche und scheinbar einfache Problem
gehört inzwischen zum festen Bestand der Unterhaltungsmathematik und es
existiert eine erhebliche Anzahl von Publikationen zu diesem Thema.
Wie auch immer man die wissenschaftlichen Beiträge von Lothar Collatz
einschätzen möchte, er hat angewandte Mathematik im besten Sinne betrieben.
Man kann wohl sagen, dass seine wissenschaftliche Arbeit und ganz besonders
deren Auswirkungen auf die Anwendungen dazu beigetragen haben, dass unsere
Welt durch sie ein wenig besser geworden ist, und was kann man Lobenderes
über einen Wissenschaftler sagen.
Referenzen
[1] | W. Ernst Böhm in Zusammenarbeit mit Gerda Paehlke (Hrsg.): Forscher und Gelehrte, Ernst Battenberg Verlag, Stuttgart, 1966, 118 - 120 | |
[2] | Elsbeth Bredendiek, Hans Burchard, Uwe Grothkopf, Hans Joachim Oberle, Gerhard Opfer, and Bodo Werner (Hrsg.): Lothar Collatz 1910 -1990, Hamburger Beiträge zur Angewandten Mathematik, Reihe B, Bericht 16. Institut für Angewandte Mathematik der Universität, Hamburg, Juli 1991 |
Bildnachweis
Porträt | Elfriede Liebenow, Hamburg. Mit Dank für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe. |
1) Für genaue bibliographische Daten der Arbeiten von L. Collatz siehe [2, Abschnitte 3.1, 3.2]..