Mathematischer Ort des Monats Dezember 2024
Die Schlosskirche zu Wittenberg
von
Wolfgang Volk
Zunächst soll ein geschichtlicher Abriss zur Entwicklung des in baulicher
Einheit errichteten Ensembles des Schlosses und der Schlosskirche zu Wittenberg
dargelegt werden:1)
- um 1180 Erste urkundliche Erwähnung eines „Burgward Wittenberg“.
- um 1340 Bei ihrem Schloss lassen die askanischen Herzöge der von Albrecht I. (um 1175-1260) begründeten Linie eine „Allerheiligenkapelle“ errichten und gründen für den liturgischen Dienst in ihr ein Kollegiastift [2]. Diese Linie der Askanier bestand nur 4 Generationen, und sie starb mit dem Ableben der stark verschuldeten Nachkommen Rudolf III. (um 1373-1419) und Albrecht III. (auch genannt der Arme, um 1375-1422) aus.
- 1489-1509 Kurfürst Friedrich der Weise (1463-1525) aus der ernestinischen Linie des Hauses Wettin lässt das Schloss der Askanier mit der Kapelle abreißen und an dessen Stelle sein neues Residenzschloss mit einer geräumigeren Kirche als Nordflügel errichten.
- 1502 Auf Betreiben des Kurfürsten Friedrichs des Weisen erteilt der römisch-deutsche Kaiser Maximilian I. am 6. Juli das königliche Gründungsprivileg für eine Universität, die bereits am 18. Oktober eröffnet wird.
- 1503 Die noch nicht gewölbte Kirche wird am 17. Januar wieder „allen Heiligen“ geweiht.
- 1507 Die Kirche wird akademisches Gotteshaus und Auditorium der Universität.
- 1517 Martin Luther veröffentlicht am 31. Oktober seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel, der Überlieferung nach an der Haupttür der Kirche (Thesenanschlag).
- 1525 Friedrich der Weise wird in der Kirche bestattet. Die Privatmessen werden abgeschafft und evangelische Gottesdienste eingeführt.
- 1546 Martin Luther (1483-1546) stirbt in Eisleben und wird vier Tage später, am 22. Februar, in der Schlosskirche am Fuße der Kanzel beigesetzt.
- 1560 Phillip Melanchthon (1497-1560) stirbt am 19. April in Wittenberg und wird ebenfalls in der Schlosskirche nahe der Thesentür bestattet.
- 1760 Nach einem Beschuss im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) brennt die Schlosskirche aus. Ein Teil der Inneneinrichtung und die hölzerne „Thesentür“ gehen dabei verloren.
- 1770 Die wieder aufgebaute Schlosskirche wird eingeweiht, der Schlossturm zum Kirchturm umgebaut.
- 1813 Bei einem Beschuss in den Befreiungskriegen (Beendigung der durch Napoleon Bonaparte begründeten Vorherrschaft Frankreichs über große Teile Europas, 1813-1815) wird die Kirche glücklicherweise nur beschädigt, der obere Teil des Turms mit den Glocken aber zerstört.
- 1815-1817 Wittenberg wird preußisch, die Universität wird mit der hallenser Friedrichs-Universität zusammengeführt. Die Schlosskirche wird dem neugegründeten Predigerseminar zugewiesen. In den Jahren darauf werden West- und Südflügel des Schlosses zu einer Kaserne umgebaut.
- 1848 Johann Hinrich Wichern erklärt vor einer großen Versammlung in der Schlosskirche, dass der Dienst an den Notleidenden im Volke eine Pflicht der Evangelischen Kirche sei. Er leitet damit die Gründung der „Inneren Mission“ ein.
- 1858 Die vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) gestifteten neuen Thesentürflügel aus Bronze werden eingesetzt und das alte Portal neu gestaltet (siehe nachstehendes Bild).
- 1885-1892 Die Schlosskirche und ihr Turm werden zu einem Denkmal der Reformation im neugotischen Stil umgebaut.
- 1919 Im Schloss werden ein Museum, das Wittenberger Stadtarchiv und später eine Jugendherberge untergebracht.
- 1983 Aus Anlass der Feiern im Jahr des 500. Geburtstags Luthers stiftet die evangelische Kirche 12 Glasbildnisse mit Porträts von Reformatoren europäischer Länder. Sie wurden von Renate Brömme (1936-2020) geschaffen und in die unteren Seitenfenster eingesetzt.
- 1989-90 Vom 10. Oktober 1989 bis zum März 1990 finden unter großer Beteiligung die Gebetsgottesdienste „um Erneuerung“ des Landes nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft statt.
- 1996 Die Schlosskirche sowie das Lutherhaus, das Melanchthonhaus, das Augustineum und die Stadtkirche in Wittenberg wie auch das Geburts- und das Sterbehaus Luthers in Eisleben werden von der UNESCO als Luthergedenkstätten in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.
- 1999-2000 Nach einer umfangreichen Dachstuhlsanierung erhält die Schlossirche ein neues Dach aus farbig glasierten Ziegeln, so wie es 1892 gestaltet war.
- 2013-2017 In Vorbereitung der Feierlichkeiten zu 500 Jahre Reformation werden Schloss und Schlosskirche umfassend saniert und restauriert.
Nach Philipp Melanchthon wurde in den folgenden etwa 200 Jahren noch rund 100 weitere Grablegungen
in der Schlosskirche vorgenommen – darunter von etwa 75 Professoren der Universität
Leucorea2). Im späten 18. Jahrhundert bestand schon
fast der gesamte Fußboden des Kirchenschiffs aus mit Inschriften versehenen Grabplatten.
Zum Ende dieser Sitte führte ein verändertes Empfinden. 1774 bezeichnete das
Begraben in Kirchen ein Medizinprofessor „einen närrischen Brauch“.
In der Folge verzichteten nahezu alle Professoren der Universität auf ihr Privileg,
in der Schlosskirche bestattet zu werden.
Im Jahr 1885 öffnete man den Fußboden der Schlosskirche zwecks einer Untersuchung
ihrer Fundamente. Zum Vorschein kamen lange Gräberreihen. Vor der Verlegung eines neuen
Fußbodens mussten etliche unterirdische Grabgewölbe stabilisiert werden.
Etwa 40 Platten, welche die Grabstellen bedeckten und mit betreffenden Inschriften versehen waren,
stellte man nun an den Außenmauern rund um das Kirchenschiff auf, wo sie auch heute noch
vorhanden sind.
Diese waren zum damaligen Zeitpunkt teilweise bereits sehr abgetreten. Die Inschriften sind
bei etlichen dieser Grabplatten heute gar nicht mehr oder nur in Teilen zu erkennen oder zu
erahnen.
Zu den Professoren, welche die beiden Lehrstühle für niedere und höhere
Mathematik bekleideten und in der Schlosskirche bestattet wurden, zählen
(gemäß [3]):
- Petrus Otto (?-1595)3) bekleidete zunächst probeweise, später als Professor, das Ordinariat für höhere Mathematik an der Leucorea,
- Andreas Schato (1539-1603) erwarb am 8. Oktober 1562 den akademischen Grad eines Magisters der Philosophie. Ab 1564 war er in Stargard und Stettin tätig, kehrte 1570 nach Wittenberg zurück, arbeitete zunächst als Privatdozent und bekleidete ab 1574 die Professur für niedere Mathematik. Während jener Zeit beschäftigte er sich mit den naturwissenschaftlichen Fragen der Medizin und erlangte am 16. Mai 1578 den Grad eines Lizentiaten der Medizin und promovierte am 26. Mai 1578 zum Doktor der Medizin. 1581 übertrug man ihm die Professur für Physik und 1592 eine Professur für Medizin, die er bis zu seinem Lebensende innehatte4). Gemäß [1, S. 104] ist dessen Grabplatte auf der nachstehend wiedergegebenen fotografischen Aufnahme wiedergegeben. Deren Inschrift, die in [7] in lateinscher Sprache wiedergegeben ist, ist vor Ort nicht mehr zu entziffern.
- Erasmus Schmidt (1570-1637) begann 1590 sein Studium der Philosophie in Wittenberg und schloss dieses als Magister 1593 ab. Im Anschluss hielt er privat Vorlesungen über griechische Sprache und zur Mathematik. Er darf als Schüler von Petrus Otto bezeichnet werden, doch blieb es ihm versagt, dessen Nachfolge anzutreten. Erst 1597 wurde er zum Adjunkt in die philosophische Fakultät ernannt, wo ihm im gleichen Jahr die Professur für griechische Sprache übertragen wurde. Zudem wurde er 1614 zusätzlich Professor für niedere Mathematik. Sein Tod infolge des damals in Wittenberg grassierenden Fiebers – als Begleiterscheinung des Dreißigjährigen Kriegs (1618.1648) – wurde an der Leucorea als großer Verlust für die Wissenschaft im Allgemeinen und für die Gräzistik im Besonderen beklagt.
- Christoph Nothnagel (1607-1666) immatrikulierte sich am 4. März 1629 an der Universität Wittenberg, wechselte kurz danach nach Königsberg, kehrte albald zurück und erlangte am 21. September 1630 den akademischen Grad des Magisters der Philosophie. Er wurde am 28. März 1634 als Adjunkt an der philosophischen Fakultät aufgenommen und übernahm am Folgetag die Professur für höhere Mathematik5). Auch dessen stark verwitterte Grabplatte ist in [1, S. 106] notiert, jedoch ohne präzise Lagebeschreibung und ohne deren Maße.
- Michael Strauch (1635-1709) studierte in Leipzig und seiner Heimatstadt Wittenberg, wo er am 29. April 1658 den Grad des Magisters der Philosophie erwarb. Danach internahm er eine Bildungsreise, die ihn unter anderem nach Oxford zum Mathematiker John Wallis (1616-1703) und nach Danzig zum Adtronomen Johannes Hevelius (1611-1687) führte. Nach seiner Rückkehr wurde er am 24. März 1664 Adjunkt an der philosophischen Fakultät. Am 10. März 1665 übernahm er die Professur der niederen Mathematik, die zuvor sein Bruder Aegidius Strauch II. (1632-1682) innehatte. 1689 erhielt er die Professur für höhere Mathematik.6)
Gemäß den Angaben in [1, S. 104] müsste die vierte Grabtafel auf dem Bild
von links jene für Andreas Schato sein.
Referenzen
[1] | Fritz Bellmann, Marie Luise Harksen und Roland Werner: Die Denkmale der Lutherstadt Wittenberg, mit Beiträgen von Peter Findeisen, Hans Gringmuth-Dallmer, Sibylle Harksen und Erhard Voigt, Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, 1979 | |
[2] | Evangelische Schlosskirche Wittenberg (Hrsg.): Geschichte der evangelischen Schlosskirche Wittenberg | |
[3] | Evangelisches Predigerseminar Wittenberg: Die Schlosskirche als Ruhestätte Wittenberger Professoren, Faltblatt mit Text (überwiegend) von B. Gruhl anlässlich des Jubiläums „500 Jahre Schlosskirche Wittenberg“ | |
[4] | Institut für Mathematik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Die Mathematikprofessoren der Leucorea | |
[5] | Kustos des Schlosskirchenensembles im Auftrag des Verwaltungsrats (Hrsg.): Schloss und Schlosskirche Wittenberg, 8-seitige Broschüre mit Willkommensgruß, Lageplan und Zeittafel | |
[6] | Elke Strauchenbruch: WER WAR WO in Wittenberg? – Wissenswertes zu 124 Gedenktafeln, 2. überarb. und erw. Aufl., Drei Kastanien Verlag, Lutherstadt Wittenberg, 2017, ISBN 978-3-933028-80-8 | |
[7] | Wikipedia: Andreas Schato |
Bildnachweis
Kirchturm, Glasfenster und Grabplatten | Wolfgang Volk, Berlin, Juni 2020 | |
Portal | Wolfgang Volk, Berlin, August 2022 | |
Apsis | Wolfgang Volk, Berlin, Juli 2021 |
1) Die Angaben sind in weiten Teilen [2]
entnommen, in einigen Passagen auch wörtlich, sowie durch Angaben aus [3]
ergänzt.
2) Der Name Leucorea leitet sich aus dem
Griechischen ab (siehe den Artikel zum mathematischen Ort des Monats Oktober 2020
Tafeln für Giordano Bruno, Joachim von Lauchen,
Kaspar Peuker und Johann Daniel Titius in der Lutherstadt Wittenberg).
3) Über Petrus Otto ist so gut wie nichts bekannt.
[4] nennt allerdings 1594 als Todesjahr.
4) Andreas Schato ist in [4] nicht
aufgeführt.
5) In [4] wird als Periode seiner Professur
1633-1666 genannt.
6) Auch zu Michael Strauch weichen die Jahresangaben
in [4] von denen im Text angegebenen ab.