Mathematiker des Monats Juli 2017
Ludwig Bieberbach (1886-1982)
von Reinhard Siegmund-Schultze
 
Ludwig Bieberbach
Ludwig Bieberbach
 
Bieberbach war einer der bedeutendsten Vertreter der geometrischen Funktionentheorie aber auch der stärkste Befürworter der Nazi-Politik unter den Mathematikern.
Als Schüler des Göttinger Mathematikers Felix Klein, bei dem er 1910 promovierte, lernte Bieberbach Jevgraf Stepanovic Fedorovs und Arthur Schönflies’ Arbeiten über den Zusammenhang von Gruppentheorie und Kristallographie kennen. Diese inspirierten ihn zu eigenen wichtigen Teilbeiträgen (1911/12) an der Schnittstelle von Algebra und Geometrie bei der Lösung des sogenannten 18. Hilbertschen Problems von 1900, indem er bewies, dass es in jedem euklidischen Raum nur endlich viele Bewegungsgruppen mit endlichem Fundamentalbereich gibt. Bieberbach stellte 1916 eine weitreichende Vermutung über die Eigenschaften gewisser Abbildungen (schlichte Funktionen) auf, deren Bestätigung die Verwendbarkeit des sogenannten „Abbildungssatzes” von Bernhard Riemann aus dem Jahr 1851 entscheidend verbessern sollte. Dieser berühmte Satz hatte theoretisch die Reduzierbarkeit der Untersuchung komplizierter allgemeiner Bereiche der Ebene auf den viel einfacheren Kreis gesichert. Die „Bieberbachsche Vermutung” wurde zwei Jahre nach seinem Tod von Louis de Branges 1984 bestätigt. Dem Berliner Mathematiker Frobenius wird das Urteil (1915) zugeschrieben, Bieberbach „greife mit seiner ungewöhnlichen mathematischen Schärfe immer nach den tiefsten und schwierigsten Problemen, sei der scharfsinnigste, eindringlichste Denker seiner Generation.” [3, S. 113].
über Zürich (1910), Königsberg (1911), Basel (1913) und Frankfurt am Main (1915) gelangte Bieberbach 1921 nach Berlin, wo er mit einer ihm allenthalben bestätigten „jugendlich frisch zupackenden Art des Auftretens und Arbeitens” (so der Physiker Max Planck in seiner Erwiderung auf Bieberbachs akademische Antrittsrede) wissenschaftspolitisch und wissenschaftsorganisatorisch tätig war. Bieberbach zeigte auch großes Interesse an Problemen der angewandten Mathematik und stand mit dem Berliner Fachvertreter in diesem Feld, Richard von Mises, in engem persönlichen und wissenschaftlichen Austausch.
Bieberbachs plötzliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus nach 1933 überraschte allgemein. In einer Rede von 1934 entwickelte Bieberbach seine unhaltbare psychologische Typentheorie mathematischen Schaffens, in der er „artfremde” (damit meinte er vor allem jüdische und französische) und „arteigene” (also deutsche) Typen und Stile unterschied. Diese unter dem Oberbegriff der sogenannten „Deutschen Mathematik” zusammengefasste rassistische Pseudotheorie, lieferte unmittelbar eine demagogische „Begründung” und Rechtfertigung der damals erfolgenden Massenvertreibungen von Wissenschaftlern und Studenten. Anders als viele seiner Kollegen, die unter anderem gewisse Tendenzen zur übertriebener Abstraktheit der Mathematik um 1930 ebenfalls schmerzlich empfanden, strebte Bieberbach nach einer radikalen und „einfachen” Lösung seiner weltanschaulichen Probleme. Bieberbach fand mit seiner Theorie weder bei den Mathematikern noch bei den Nazi-Behörden viel Anklang; letztere waren mit zunehmender Kriegsvorbereitung eher pragmatisch am Nutzen der Wissenschaft für das Regime interessiert. 1934 scheiterte Bieberbachs Versuch, das faschistische „Führerprinzip” in die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV) einzuführen. In der Universität und der Berliner Akademie organisierte er aber die Vertreibung von Kollegen und ehemaligen Freunden wie Issai Schur, über den er 1938 schrieb: „Ich wundere mich, dass Juden noch den akademischen Kommissionen angehören.” Als langjähriger Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität förderte Bieberbach aus politischen Gründen zweitrangige Mathematiker. 1936 bis 1942 gab Bieberbach die mathematische Fachzeitschrift mit politischem Einschlag „Deutsche Mathematik” heraus.
Bieberbach war wohl der einzige deutsche Mathematiker, der nach dem Zweiten Weltkrieg dauerhaft Lehrverbot erhielt. Er war aber weiterhin bis zu seinem Tod im hohen Alter von 95 Jahren in Westberlin und Westdeutschland mit Publikationen insbesondere von mathematischer Lehrbuchliteratur erfolgreich tätig.
 

Referenzen

[1]   Ludwig Bieberbach: über die Bewegungsgruppen der Euklidischen Räume II, Mathematische Annalen 72 (1912), 400 - 412
[2]   Ludwig Bieberbach: Stilarten mathematischen Schaffens, Sitzungsberichte der Preußische Akademie der Wissenschaften, phys.-math. Kl. 1934, 351 - 360
[3]   Helmut Lindner: „Deutsche” und „gegentypische” Mathematik. Zur Begründung einer „arteigenen Mathematik” im „Dritten Reich” durch Ludwig Bieberbach, in: H. Mehrtens und S. Richter (Hrsg.): Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1980, 88 - 115
[4]   Herbert Mehrtens: Ludwig Bieberbach and ‘Deutsche Mathematik’, in: E. R. Phillips (Hrsg.): Studies in the History of Mathematics, Washington, 1987, 195 - 241
[5]   Christian Pommerenke: The Bieberbach Conjecture, The Mathematical Intelligencer 7 (1985), no. 2, 23 - 25, 32
[6]   Reinhard Siegmund-Schultze: Bieberbach, Ludwig Georg Elias Moses, Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Bd. 1, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg - Berlin, 2003, 173 - 174
 

Bildnachweis

Porträt   nach einer Fotografie gestaltet