Mathematischer Ort des Monats Juni 2022
Denkmal für Johann Jacob Baeyer in Berlin-Müggelheim
von
Wolfgang Volk
Müggelheim ist ein – im berliner Jargon – j. w. d.
(steht für janz1) weit draußen) gelegener Ort,
der, wie viele andere auch, im Jahr 1920 bei der Bildung von Groß-Berlin einbezogen wurde;
heute gehört Müggelheim zum Stadtbezirk
Treptow-Köpenick.
Viele dieser eingemeindeten Ortschaften besaßen Charakter und Strukturen eines Dorfes.
So ist in Müggelheim auch heute noch die Lage des Dorfangers zu erkennen –
die beiden Richtungsfahrbahnen der Durchgangsstraße von der Altstadt Köpenick
(nordwestlich gelegen) nach Gosen (südöstlich und bereits außerhalb des Stadtgebiets
im Land Brandenburg gelegen) teilen sich und umschließen so das alte Dorfzentrum,
das heute noch mit der Dorfkirche und dem Schulgebäude2)
bebaut ist. „Alt-Müggelheim“ lautet der Name der Durchgangsstraße auf der
ganzen Länge des ehemaligen Angers. Erreicht man aus Köpenick kommend den Ortskern von
Müggelheim, so wird man vom nachstehend abgebildeten Hinweisschild begrüßt,
das darüber informiert, dass in diesen Tagen (wir schreiben Juni 2022) Müggelheim sein
275-jähriges Bestehen begeht und seinerzeit von 20 Familien aus
Odernheim/Pfalz
gegründet wurde.
Am anderen (südöstlichen) Ende des Dorfangers findet man den unauffälligeren
Gedenkstein aus rotem Granit vor, von einem metallnen Globus mit Gradnetz bekrönt
(siehe die Abbildung ganz oben, im Hintergrund ist die Dorfkirche zu erkennen).
Dieses Denkmal wurde 1962 aus Anlass „100 Jahre mitteleuropäische Gradmessung“
errichtet und ehrt den
Generalleutnant
Johann Jacob Baeyer.
Die Inschrift dieses Gedenksteins lautet wie folgt:
Dem Begründer der
Internationalen Erdmessung
Johann Jacob Baeyer
aus Müggelheim
anläßlich des 100-jährigen Bestehens
der internationalen Erdmessung im Jahre 1962
Internationalen Erdmessung
Johann Jacob Baeyer
aus Müggelheim
anläßlich des 100-jährigen Bestehens
der internationalen Erdmessung im Jahre 1962
Die beiden ersten Zeilen sind kaum noch zu erkennen (vergleiche [6]) Unter diesen und dem
durch größere Schrift hervorgehobenen Namen ist ein Medaillon mit einem Porträt des
Geehrten im Profil eingelassen, das beiderseits von den Jahresangaben 1794 und 1885 flankiert wird.
Diese benennen das Geburts- und das Todesjahr.
Die Enthüllung dieses Denkmals fand am 6. Oktober 1962 statt [3, S. 79].
Die Lage dieses Denkmals leitet sich aus der Tatsache ab, dass J. J. Baeyer in Müggelheim
geboren wurde – als Sohn des Landwirts und Schullehrers Jakob Baeyer und dessen
Ehefrau Elisabeth Margarete geborene Tisch. Gemäß [4] wurde sein Großvater
väterlicherseits 1748 aus Oberhausen/Pfalz3) in
Müggelheim angesiedelt.
Anlässlich des 200. Geburtstags von Johann Jacob Baeyer wurde eine Seitenstraße,
die ursprünglich zum Müggelheimer Damm gehörte, in
Johann-Jacob-Baeyer-Straße
umbenannt. Dem Straßenschild sind folgende zusätzlichen Angaben zu entnehmen:
Begründer der mitteleuropäischen Gradmessung
der sich bis 1862 alle mitteleuropäischen Staaten
angeschlossen hatten. * 5. 11. 1794 + 10. 9. 1885
der sich bis 1862 alle mitteleuropäischen Staaten
angeschlossen hatten. * 5. 11. 1794 + 10. 9. 1885
In den vorstehenden Ausführungen tauchen die Begriffe mitteleuropäische Gradmessung
und internationale Erdmessung auf, die sicherlich der Erläuterung bedürfen.
Mitteleuropäische Gradmessung und Internationale Erdmessung
Im April 1761 legte Johann Jacob Baeyer dem preußischen Kriegsministerium einen
„Entwurf zu einer mitteleuropäischen Grad-Messung“ vor, der im gleichen Jahr
noch eine
Denkschrift zur Begründung einer mitteleuropäischen Gradmessung mit dem Titel
„Ueber die Grösse und Figur der Erde“ [2] folgte. Letztere umfasst mehr als 100 Seiten,
ihr ist eine Widmung dem Andenken Alexander's von Humboldt4)
vorangestellt. In dieser Denkschrift wird zunächst die Historie bereits durchgeführterer
Gradmessungen ausführlich beschrieben, ausgehend von den Ergebnissen von
Eratosthenes (ca. 275 v. Chr.-ca. 194 v. Chr.) und
Poseidonios (135 v. Chr.-51 v. Chr.),
als man noch von der Kugelgestalt der Erde ausging. Letzteres war auch noch der Fall, als 1525
der französische Arzt
Jean François Fernel
(ca. 1497-1558) eine Gradmessung nördlich von Paris durchführte, wobei er die Länge
des Gradbogens derart ermittelte, dass er die Anzahl der Radumdrehungen seiner Kutsche zählte
und diese mit dem Radumfang multiplizierte. Erst Anfang des 17. Jahrhunderts gelang
Willebrord van Roijen Snell
(1580-1626) eine präzisere Bestimmung größerer Distanzen zwischen Punkten durch die
Entwicklung der
Triangulation genannten
Methode.
Die Hypothese von
Isaac Newton (1643-1726) und
Christiaan Huygens (1629-1695),
dass durch die „Schwere“ und durch die Erdrotation hervorgerufene
„Schwungkraft“ der Erdglobus ein an den Polen „abgeflachtes
Rotationssphäroid“5) sein müsse,
wurde einerseits durch Pendelversuche von
Jean Richer (1630-1696) und
andererseits durch Gradmessungen in den Jahren 1735 bis 1740 durch
Charles Marie de La
Condamine (1701-1774),
Pierre Bouguer (1698-1758) und
Louis Godin (1704-1760) im
Vizekönigreich Peru
sowie ab 1736 durch
Pierre Louis Moreau
de Maupertuis (1698-1759),
Charles Étienne
Louis Camus (1699-1768),
Alexis-Claude Clairaut
(1713-1765),
Pierre Charles Lemonnier
(1715-1799) sowie
Réginald Outhier
(1694-1774), denen sich in Schweden noch
Anders Celsius (1701-1744)
angeschlossen hatte, in Lappland.
In den Jahren 1792-1798 führten
Jean-Baptiste Joseph
Delambre (1749-1822) und
Pierre Méchain (1744-1804)
eine Gradmessung zwischen Dünkirchen – Paris – Barcelona, die zur Definition
der Längeneinheit Meter als 10 millionster Teil des Erdmeridianquadranten diente.
Diese Gradmessung wurde später nach Süden von P. Méchain und nach dessen Tod durch
Jean-Baptiste Biot (1774-1862) und
François Jean Dominique Arago
(1786-1853) bis zur balearischen Insel Formentera ausgeweitet und nach Norden an das englische
Triangulationsnetz angeschlossen, das sich bis zu den Shetland-Inseln erstreckte.
In Russland begann man 1817 mit Gradmessungen durch
Carl Friedrich Tenner (1783-1860) und
Friedrich Georg Wilhelm
Struve6) (1793-1864), die letztlich 1852 in eine Gradmessung
mündeten, die sich vom Eismeer (Fuglenaes bei Hammerfest) bis Ismael an der Donau
(heute Ukraine) erstreckt. Sie wird gemeinhin als
Struve-Bogen bezeichnet.
Die vorstehende Zusammenstellung kann nur einen groben Überblick über die wesentlichen
Gradmessungen geben. Das mit den Gradmessungen verbundene Ziel der Berechnung der Dimensionen des
Erdglobus zeigte jedoch signifikante Abweichungen, beispielsweise schwankte die
Abplattung/Exzentrizität
e = (a-b)/a, wobei a und b die große und kleine
Halbachse der Meridianellipse bezeichnen, beträchtlich zwischen 1/334 und 1/270 [2, S. 27].
Nun ist auch in Betracht zu ziehen, dass im Laufe der Entwicklung immer bessere Instrumente zur
Verfügung standen und sich auch die Ausgleichungsrechnung/Methode der kleinsten Quadrate
erst entwickelte.
Im Jahr 1841 berechnete
Friedrich Wilhelm Bessel
(1784-1846) die beiden Halbachsen der Meridianellipse mit einer Abplattung von 1/299,1528.
Dieses sogenannte Bessel-Ellipsoid7) bildete bis in die
2010er Jahre die Grundlage der im Deutschen Reich und der Bundesrepublik verwendeten
Koordinatensysteme.
In der Denkschrift werden noch weitere Messungsanordnungen angesprochen, unter anderem
Längengradmessungen und Pendelversuche. In der Folge wird in der Denkschrift die
Notwendigkeit einer mitteleuropäischen Gradmessung hergeleitet, in die alle
europäischen Staaten einbezogen werden sollen, die in einem beiderseits 8° breiten
Streifen der Verbindungslinie Palermo – Christiania (heute Oslo) liegen.
Bereits durchgeführte Triangulationen und auch in diesem Bereich errichtete Sternwarten
sollen einbezogen werden.
König Wilhelm von Preußen (ab 1871 erster deutscher Kaiser Wilhelm I.) befahl
bereits im Juni 1861 durch Kabinettsorder Baeyers Vorschläge umzusetzen, Ende 1862
waren bereits Dänemark, Sachsen-Gotha, die Niederlande, Polen, die Schweiz, Baden,
das Königreich Sachsen, Italien, Österreich, Schweden, Norwegen, Bayern,
Mecklenburg, Hannover und Belgien dem Projekt beigetreten. Frankreich, dessen Staatsgebiet
nur marginal betroffen war, hatte seine Unterstützung zugesagt. Die Regierungen von
Württemberg, Kur-Hessen sowie Hessen-Darmstadt waren noch zum Beitritt eingeladen.
1864 fand die erste Konferenz der beteiligten Staaten in Berlin statt, auf der die
Gründung einer Ständigen Kommission für die fachliche Begleitung und eines
Zentralbüros mit Sitz in Berlin beschlossen wurde [1][5], Letzteres nahm 1866 unter dem
Direktorat von J. J. Baeyer seine Arbeit auf. Bereits auf der Konferenz 1867 wurde wegen
Beitritts weiterer Staaten die Bezeichnung Mitteleuropäische Gradmessung in
Europäische Gradmessung geändert. Nach dem Tod von J. J. Baeyer im Jahr 1885
übernahm
Friedrich Robert Helmert
(1843-1917) die Leitung des Zentralbüros und besaß diese bis zu seinem Tode.
Die Organisation Europäische Gradmessung wurde bald zur
Internationalen Erdmessung; bis 1889 waren die Vereinigten Staaten von Amerika,
Mexiko, Chile, Argentinien und Japan beigetreten. Die internationale Zusammenarbeit endete
1916 mit dem 1. Weltkrieg. Nach dem Krieg gründete sich 1919 die Union
Géodésique et Géophysique Internationale (heute IUGG) und 1922
konstituierte sich der Teilbereich Geodäsie der 1932 den Namen
International Association of Geodesy (IAG) annahm und sich als Nachfolgeorganisation
der Mitteleuropäische Gradmessung sieht.
Messpfeiler auf dem Fichtelberg im Erzgebirge; dessen
Inschrift benennt
explizit die mitteleuropäische Gradmessung
Im Zuge der mitteleuropäischen Gradmessung wurde das Königreich Sachsen in den
Jahren 1862-1890 (neu) trianguliert [7]. Der trigonometrische Punkt I. Ordnung auf dem Fichtelberg
besitzt die Inschrift:
Station
FICHTELBERG
der
Mitteleuropäischen Gradmessung
K[önigreich] Sachsen
1864
FICHTELBERG
der
Mitteleuropäischen Gradmessung
K[önigreich] Sachsen
1864
Der Messpfeiler ist wegen Baumaßnahmen etwa 80 m gegenüber seinem
ursprünglichen Standpunkt versetzt worden.
Referenzen
[1] | Peter-Vincent Angus-Leppan: A Note on the History of the IAG | |
[2] | Johann Jacob Baeyer: Über die Größe und Figur der Erde, Eine Denkschrift zur Begründung einer mittel-europäischen Gradmessung nebst einer Übersichtskarte, Georg Reimer, Berlin, 1861 | |
[3] | Joachim Höpfner: Über die Geschichte des Geodätischen Instituts Potsdam | |
[4] | Fritz Mühlig: Baeyer, Johann Jakob, Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 536-537 | |
[5] | Wolfgang Torge: 150 Years of International Cooperation in Geodesy: Precursors and the Development of Baeyer’s Project to a Scientific Organisation, zfv 137.3 (2012), S. 166 - 175 | |
[6] | Wolfgang Volk: Gedenkstein für Johann Jacob Baeyer in Berlin-Müggelheim (Deutschland), Beitrag zur virtuellen Ausstellung Zeugnisse zu Mathematikern | |
[7] | Wikipedia: Königlich-Sächsische Triangulirung |
Bildnachweis
Bilder aus Müggelheim | Wolfgang Volk, Berlin, Mai 2022 | |
Fichtelberg (Messpfeiler und Inschrift) | Wolfgang Volk, Berlin, April 2010 |
1) Im berliner Jargon wird der Buchstabe „g“
in der Regel wie im Deutschen der Buchstabe „j“ ausgesprochen. In diesem Sinne bedeutet
das Wort „janz“ schlichtweg „ganz“.
2) Das Schulgebäude wird heute als
Kulturzentrum genutzt.
3) Der Ort Oberhausen ist lediglich etwa 5 km vom
auf der Informationstafel genannten Odernheim entfernt.
4) Diese Widmung endet mit einem vierzeiligen Auszug des
Gedichts „Das Mädchen von Orleans“ von Friedrich Schiller in leicht abgewandelter
Wortwahl – ohne dass der Dichter genannt wird.
5) Die in Gänsefüßchen eingeschlossenen
Begriffe sind wortwörtlich der Denkschrift entnommen.
6) Großvater von Karl Hermann Struve (1854-1920) dem
(späteren) Direktor der berliner Sternwarte (siehe
Mathematischer Ort des Monats März 2020).
7) Gegenüber den Dimensionen des World Geodetic
System (WGS84), was die Grundlage des Gobal Positioning System (GPS) bildet, sind
beide Halbachsen des Bessel-Ellipsoids um etwa 700 m zu klein.