Mathematischer Ort des Monats Januar 2023
Graffito in der Thermometersiedlung
in Berlin-Lichterfelde
von
Wolfgang Volk
Die Thermometersiedlung ist eine Stadtrandsiedlung im Süden Berlins,
wie sie vielerorts ab den 60-er Jahren errichtet wurden, als es galt aufgrund des aktuellen
Wohnungsmangels schnell viel preiswerten Wohnraum zu schaffen. So entstanden im damaligen
West-Berlin in größerem Stil das
Märkische Viertel
(in den Jahren 1963-74) wie auch die
Gropiusstadt (in den Jahren 1962-75)
und im kleineren Format unter anderem die
Thermometersiedlung
(in den Jahren 1968-74);
aber auch im Ostteil der Stadt entstanden derartige Satellitenstädte1).
Der im volkstümlichen Sprachgebrauch verwandter Name „Thermometersiedlung“
leitet sich von den Namensgebern der das Areal durchziehenden Straßen ab:
(in alphabetischer Folge) Celsiusstraße, Fahrenheitstraße und
Réaumurstraße2),
gemäß den Namensgebern
- Anders Celsius (1701-1744), ein schwedischer Astronom, Mathematiker und Physiker. Auf ihn wird weiter unten noch zurückzukommen sein,
- Daniel Gabriel Fahrenheit (1686-1736), ein deutscher Physiker und Erfinder von Messinstrumenten und
- René-Antoine Ferchault de Réaumur (1683-1757), ein französischer Natur- und Materialforscher mit einem weiten Interessens- und Arbeitsgebiet – wesentliche Beiträge leistete er insbesondere zur Insektenkunde (Entomologie).
Zusätzlich zu diesen drei genannten Straßen gibt es in der Thermometersiedlung
noch eine Stichstraße, den Mercatorweg, der nach dem Kosmographen
Gerhard[us] Mercator
(eigentlich Gheert Cremer, 1512-1594) benannt ist und an deren Ende die
Mercator-Grundschule
beheimatet ist.
Dort, wo die Fahrenheitstraße auf die Celsiusstraße trifft
(ein verkehrsberuhigter Bereich), besitzt das 6-geschossige Wohngebäude
mit der postalischen Adresse Fahrenheitstraße 27 eine fensterlose
Wand, die mit dem oben wiedergegeben Graffito versehen ist. Dieses zeigt –
mit einer Ausnahme – die Porträts der Namensgeber der genannten Verkehrswege,
schön mit Bilderrahmen und den Namen verziert und seitlich mit skizzierten Objekten ergänzt,
welche die Themenfelder dieser Persönlichkeiten symbolisieren. Dies sind (von oben nach unten):
- Gerhardus Mercator mit einem Segelschiff, einer Weltkarte, einer Windrose, einem Sextanten und einem Erdglobus,
- René-A, F. de Réaumur mit einem Schmelzofen, einer Gussform und einer Bildtafel mit verschiedenen Käfern und einem Schmetterling,
- Daniel Gabriel Fahrenheit, wobei statt eines Porträts seine Lebensdaten und der Hinweis, dass er nie porträtiert wurde, zu lesen sind, mit einem Thermometer, bei dem deutlich die Zahlenwerte 212 und 323) zu erkennen sind, einer chemischen Versuchsanordnung und einem Hygrometer sowie
- Anders Celsius (hier sind auch die Lebensdaten 1701-1744 genannt) mit einem Thermometer, bei dem deutlich die Skala von 0 bis 100 zu erkennen ist, dem Ringplaneten Saturn und ein astronomisches Teleskop mit angedeudeter parallaktischer Montierung.
Hierzu seien noch einige Anmerkungen erlaubt:
- Das im Graffito angedeutete Porträt von Gerhard Mercator findet man unter anderem auf der anlässlich seines 500. Geburtstags von der Deutschen Post herausgegebenen Briefmarke wie auch auf der von der Deutschen Bundesbank zu seinem 375. Todestags geprägten 5-DM-Sondermünze, verschiedenen belgischen Briefmarken aber auch als Motiv eines Fensterbilds in der Kapitänskajüte des ehemaligen Segelschulschiffs Mercator der Belgischen Handelsmarine, das heute als Museumsschiff im Jachthafen von Oostende liegt.
- Die Weltkarte, die links vom Porträt von Gerhard Mercator zu sehen ist, lässt sich nicht mit G. Mercator in Verbindung bringen. Diese Wiedergabe der Erdoberfläche findet man in vielen, wenn nicht gar in allen für den allgemeinen Gebrauch verfügbaren Atlanten. Man darf vermuten, dass es sich hierbei um die flächentreue Mollweide-Projektion handelt (nach Carl Brandan Mollweide [1774-1825]), also eine Abbildungsvorschrift, die erst wesentlich später hergeleitet wurde. Die von G. Mercator entwickelte, nach ihm benannte winkeltreue Abbildung der (Erd-)Kugel auf einen Zylindermantel, der die Erdkugel am Äquator berührt, besitzt eine signifikant abweichende Grundlage und hatte für die Navigation auf hoher See bedeutenden Einfluss. Aus diesem Zusammenhang leitet sich die Darstellung des Segelschiffs, der Windrose und des Sextanten ab. Die Mercator-Projektion ermöglicht auf einfache Weise die Konstruktion der Loxodromen, die es zum Beispiel Seefahrern erlaubt, auf konstantem Kurs relativ zur geografischen Nordrichtung einen bestimmten Zielort anzusteuern. Dabei standen für Gerhard Mercator kartografische Belange im Vordergrund seiner Überlegungen (siehe auch [4]). Jeweils ein Ausschnitt von Landkarten, welche unter Nutzung der Mercator-Projektion erstellt wurden, ist auf der rechten Seite der oben abgebildeten Briefmarke zu erkennen beziehungsweise bildet den Hintergrund des oben wiedergegebenen Avers der Gedenkmünze. Bleibt noch zu erwähnen, dass Google Maps die Mercator-Projektion zur Darstellung der geografischen Information verwendet.
- Es sei darauf hingewiesen, dass R.-A. F. de Réaumur neben Philosophie, Zivilrecht und Physik auch Mathematik studierte [7]. Wissenschaftlich widmete er sich anderen Themen, wie der Herstellung von Stahl und Glas sowie der Insektenkunde.
- Anders Celsius widmete sich astronomischen Themen, so maß er als erster die Helligkeit von Sternen, die zuvor lediglich sogenannten Größenklassen zugeordnet waren. Er war Mitglied der Leopoldina wie auch der Preußischen Akademie der Wissenschaften. A. Celsius nahm an der Expedition von Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698-1759) nach Lappland 1736/37 teil [2][6]. Das Ziel dieser Expedition war die Durchführung einer Gradmessung4) im hohen Norden, die mit den Ergebnissen einer vergleichbaren Expedition nach Südamerika Aufschluss über die Gestalt der Erde geben sollte.
- Ergänzend sollen noch zwei weitere Briefmarken wiedergegeben werden. Die erste dargestellte Briefmarke gedenkt der Einführung der Temperaturskala durch D. G. Fahrenheit. Es nimmt nicht wunder, dass dort kein Porträt zu sehen ist. Die rechts wiedergegebene Briefmarke würdigt Anders Celsius; neben dem Porträt zeigt sie ein Thermometer und eine Skizze, einige Indizien sprechen darfür, dass sich letztere auf die Lappland-Expedition bezieht.
Das Graffito selbst ist nicht unmittelbar auf die Hauswand aufgebracht, sondern montiert;
es ist mit den Namen „Timo“ und „Ecki“ signiert.
Referenzen
[1] | Claudia Christ: 50 Jahre Thermometersiedlung – Jubiläum in Lichterfelder Großsiedlung, Lichterfelde Ost Journal Nr. 2/2018, Gazette Verbrauchermagazin GmbH, Berlin, S. 2-5 | |
[2] | Hartmut Hecht: Aufklärung am Polarkreis – Die Lappland-Expedition des Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin 145 (2021), S. 99-123 | |
[3] | Martina Sophie Pankow: Stadtkönigin Serie 2 | |
[4] | Wolfgang Volk: Lage- und Höhenfestpunkt in Berlin-Friedrichsfelde, mathematischer Ort des Monats Dezember 2017 | |
[5] | Wolfgang Volk: Denkmal für Johann Jacob Baeyer in Berlin-Müggelheim, mathematischer Ort des Monats Juni 2022 | |
[6] | Wikipedia: Anders Celsius | |
[7] | Wikipedia: René-Antoine Ferchault de Réaumur |
Bildnachweis
Graffito | Wolfgang Volk, Berlin, Januar 2020 |
1) Interessante Details zum Thema findet man in
der 2. Serie der Stadtkönigin [3].
2) Dass es in der Thermometersiedlung keinen nach
William Thomson,
1. Baron Kelvin benannten Verkehrsweg gibt, darf nicht verwundern. Dieser Kollege
erfuhr im Physikunterricht des Autors in einer Realschule in Hessen keine Erwähnung,
sondern erst in der Physikvorlesung auf der Ingenieurschule im Zusammenhang mit dem
Boyle-Mariotte'schen
Gesetz und dem
Gesetz
von Gay-Lussac.
3) 212ˆF entspricht 100ˆC dem Siedepunkt und
32ˆF entspricht 0ˆC dem Gefrierpunktpunkt des Wassers.
4) vergleiche auch [5]