Mathematischer Ort des Monats September 2024
Graffito mit einem Porträt von Albert Einstein in Berlin-Friedrichshain
von
Wolfgang Volk
Im Wesentlichen ist die
East Side Gallery ein noch
erhaltenes, nur noch bedingt zusammenhängendes Teilstück der ehemaligen
Berliner Mauer entlang der
Mühlenstraße in Berlin-Friedrichshain1).
Dieses Teilstück der „Mauer“ wurde im Jahr 1990 in einer koordinierten Aktion
von 118 Künstlerinnen und Künstlern bemalt, die ihre Gedanken im Kontext mit dem
Objekt zum Ausdruck brachten.
Sie hat bereits heute schon eine wechselvolle Geschichte hinter sich (siehe [7]).
Sie bildet in ihrer Gestalt eine prominente Sehenswürdigkeit Berlins.
Seit 2018 ist für ihren Erhalt die
Stiftung Berliner Mauer
zuständig.
Dass die East Side Gallery einmal zu einem mathematischen Ort avancieren könnte,
ist und war nie vorherzusehen, zumal die einzelnen Kunstwerke den Fokus auf die
„Berliner Mauer“, die Problematik der Deutschen Teilung und insbesondere
allgemein auf das Streben nach Freiheit lenken – teilweise damit verbundene Aspekte
ironisch parodieren, so auch das Graffito von
Dmitry Vrubel,
das oft verkürzend als „Bruderkuss“ bezeichnet wird, dessen offizieller Titel aber
Mein
Gott, hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben lautet.
Dass hier „mein Gott“ angerufen wird, setzt der Ironie noch die Krone auf,
weiß man doch um das Verhältnis der Staatsführung der
Deutschen Demokratischen Republik zu christlichen Glaubensgemeinschaften [5].
So ist es nicht verwunderlich, dass ein kleines Detail eines der Graffiti, welche die
East Side Gallery in ihrer Gesamtheit definieren, den Anlass dafür bildet,
das Graffito
Justitia von
Klaus Niethardt (1928-2005) als
mathematischen Ort vorzustellen. Dieses Detail ist das (frontale) Porträt des Physikers
Albert Einstein.
Nun mag vielleicht verwundern, dass das Konterfei eines Physikers einen Bezug zur
Mathematik begründen könnte. Es ist nun so, dass die
Einstein'sche
Relativitätstheorie, welche das Verständnis unserer Welt maßgeblich
verändert hat, der mathematischen/theoretischen Physik zuzurechnen ist und durchaus
auch zu rein mathematischen Modellen führte2).
Dies hat wohl letztendlich A. Einstein zu der Aussage veranlasst: „Seit die
Mathematiker über die Relativitätstheorie hergefallen sind, verstehe ich sie
selbst nicht mehr.“ (siehe zum Beispiel [2])
Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Berücksichtigung von Albert Einstein beim
Graffito Justitia eine andere Ursache besitzt, die allerdings nicht überliefert
zu sein scheint.
Da mag es hilfreich sein, zunächst den Urheber dieses Graffito vorzustellen:
Klaus Niethardt wurde 1928 in Friedrichsroda in Thüringen geboren.
Er lebte seit 1952 in der Messestadt Leipzig und arbeitete als Hilfsarbeiter in den Kirow-Werken.
Er war Mitglied des betrieblichen Zeichenzirkels, wodurch er zahlreiche Anregungen für sein
künstlerisches Schaffen erhielt. So entwickelte er sich zum Dekorationsmaler [9].
(Soweit die wenigen Informationen, die über K. Niethardt überliefert sind.)
Bleibt noch das Graffito Justitia zu beschreiben und ansatzweise zu interpretieren:
Das mit überwiegend dunkelblauem Hintergrund gestaltete Graffito zeigt in seiner rechten Hälfte (in einem grünen Lichtkegel) die römische Göttin der Gerechtigkeit, Justitia. Seit dem Mittelalter wird sie meist mit ihren Insignien, einer (Balken-)Waage, einer Augenbinde sowie einem (Richt-)Schwert dargestellt. Die Waage steht für die ausgleichende Gerechtigkeit, die Augenbinde dafür, dass das Recht ohne Ansehen der beteiligten Personen zu sprechen ist, und das Schwert dafür, dass das Recht mit angemessener Härte durchgesetzt wird. Auf älteren Darstellungen findet man Justitia statt mit einem Schwert mit einem Ölzweig ausgestattet. Letzterer symbolisiert den Rechtsfrieden, der durch ausgleichende Gerechtigkeit hergestellt werden soll.
Das mit überwiegend dunkelblauem Hintergrund gestaltete Graffito zeigt in seiner rechten Hälfte (in einem grünen Lichtkegel) die römische Göttin der Gerechtigkeit, Justitia. Seit dem Mittelalter wird sie meist mit ihren Insignien, einer (Balken-)Waage, einer Augenbinde sowie einem (Richt-)Schwert dargestellt. Die Waage steht für die ausgleichende Gerechtigkeit, die Augenbinde dafür, dass das Recht ohne Ansehen der beteiligten Personen zu sprechen ist, und das Schwert dafür, dass das Recht mit angemessener Härte durchgesetzt wird. Auf älteren Darstellungen findet man Justitia statt mit einem Schwert mit einem Ölzweig ausgestattet. Letzterer symbolisiert den Rechtsfrieden, der durch ausgleichende Gerechtigkeit hergestellt werden soll.
Auf dem Graffito ist Justitia lediglich mit einer Waage ausgestattet,
ihre linke Hand hält sie schützend über eine Taube, die durch ihre weiße
Farbe zu einer
Friedenstaube wird.
Nachvollziehbar kann diese Schutzfunktion ohne Augenbinde zuverlässiger ausgeführt
werden. So erweitert Klaus Niethardt die „Aufgabenstellung“ der Göttin
Justitia in bedeutender – vielleicht auch unzulässiger –
Weise.3)
In der rechten Hälfte sind in einem Streifen mit gelbem Hintergrund –
von oben nach unten – die Porträts von
Friedrich Schiller
(1759-1805)4),
Johann Wolfgang Goethe
(1749-1832) und Albert Einstein (1879-1955)
wiedergegeben.5)
Zu den einzelnen benannten Geistesgrößen sei vorab angemerkt:
- Friedrich Schiller wurde in Marbach im Württembergischen geboren, floh vor seinem Landesherrn 1782 nach Thüringen, wo er unter anderem 1789 eine außerordentliche Professur für Philosophie an der Universität in Jena antrat. Er wohnte ab Dezember 1799 bis zu seinem Ableben 1805 in Weimar.
- Johann Wolfgang Goethe erblickte in Frankfurt am Main das Licht der Welt und wurde von Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach an dessen Hof berufen, er war seit 1775 bis zu seinem Tod in Weimar ansässig. Während ihrer gemeinsamen Zeit in Weimar waren F. Schiller und J. W. Goethe durch eine innige Freundschaft verbunden.
- Der Lebensweg von Albert Einstein führt von Ulm, wo er geboren wurde, über München, verschiedenen Orten in der Schweiz (Aarau, Zürich, Bern), Berlin und letztlich Princeton im Bundesstaat New Jersey in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo er sich mit dem Mathematiker Kurt Gödel anfreundete.
Dagegen weiß man zumindest von Albert Einstein, dass er sich als Pazifist definierte
und engagierte ([1], [3] und weitere Quellen). Weniger bekannt dürfte die pazifistische
Haltung von J. W. Goethe [4] sein.
Und Friedrich Schiller? Da muss man etwas tiefer graben. Auf herzoglichen Befehl und gegen
den Willen seiner Eltern trat F. Schiller 1773 als 13-jähriger in die
Karlsschule – einer Militärakademie – ein, studierte zunächst
Rechtswissenschaft, später Medizin. Nach seiner Promotion im Jahr 1780 trat er in die
Herzoglich Württembergische Armee als Regimentsmedicus ein. Ebenfalls im Alter von
13 Jahren begann er sein schriftstellerisches Wirken mit dem Verfassen von
Theaterstücken.
So ist eine pazifistische Einstellung weniger aus seiner Ausbildung abzuleiten denn vielmehr
seinem literarischen Werk zu entnehmen. Im 13-versigen Gedicht
„Das Siegesfest“
(siehe auch [6]) ist nur am Rande von guter Stimmung die Rede; vielmehr werden die
Leiden und Verluste der aus dem Trojanischen Krieg Heimkehrenden thematisiert.
Auch sein wohl bekanntestes Werk
„Das
Lied von der Glocke“ endet mit der Zeile:
„Friede sei ihr erst Geläute.“
Mit den als Pazifisten identifizieten abgebildeten Geistesgrößen gelingt ein
konsistentes Szenario mit der zur Hüterin der
Friedensbewegung aufgewerteten
Göttin Justitia.
Referenzen
[1] | Irene Armbruster: Prophet des Friedens, Bundeszentrale für politische Bildung, 2005 | |
[2] | Forum Einstein: Zitate | |
[3] | Heinz Greuling: Einstein als Pazifist und Weltbürger, Westdeutscher Rundfunk (WDR), planet wissen, (Erstveröffentlichung 2005. Letzte Aktualisierung 13.01.2020) | |
[4] | Wolfgang Rothe: Goethe, der Pazifist – zwischen Kriegsfurcht und Friedenshoffnung, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1998, ISBN 3-525-34002-8 | |
[5] | Wikipedia: Christen und Kirchen in der DDR | |
[6] | Wikipedia: Das Siegesfest | |
[7] | Wikipedia: East Side Gallery | |
[8] | Wikipedia: Justitia | |
[9] | Wikipedia: Klaus Niethardt |
Bildnachweis
Graffito | Wolfgang Volk, Berlin, am 62. Jahrestag des Mauerbaus6) |
1) Bis zur Verwaltungsreformin Berlin im Jahr 2001
war Friedrichshain ein eigenständiger Berliner Bezirk – in Zeiten der
Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in „Ostberlin“. Heute ist
Friedrichshain ein Ortsteil des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg.
2) Man denke da zum Beispiel an die Interpretaion
der Auswirkung der Gravitationskraft als Raumkrümmung.
3)
Pax, die Personifikation des
Friedens in der römischen Mythologie erfährt erst nach den römischen
Bürgerkriegen, das heißt während der Regentschaft des Kaisers
Augustue, göttliche Verehrung.
Sie ist heute weit weniger bekannt als Justitia, die mit der Waage eindeutig identifizierbar
ist
4) Man darf davon ausgehen, dass hierfür das
Ölgemälde
von Anton Graff, das in den Jahren 1786-1791 entstand, die Vorlage bildete.
5) F. Schiller wurde im Jahr 1802 und J. W. Goethe
bereits im Jahr 1782 nobilitiert, was jeweils zur Verwendung des Namenszusatzes
„von“ berechtigte.
6) Dass das Foto genau an diesem Tag aufgenommen wurde,
ist eher Zufall. An diesem Sonntag im August 2023 – so der Plan –
war das Ansinnen des Autors, die
Grabstätte von Erna Weber auf dem Friedhof Karlshorst
aufzusuchen und die dortige Situation zwecks Aufbereitung für den betreffenden Beitrag
zu erfassen und auch Fotos der
Medaillons am Hauptgebäude der Hochschule für
Technik und Wirtschaft aufzunehmen – zwecks Gestaltung des diesbezüglichen
Beitrags zur Rubrik der mathematischen Orte des Monats.
Die spontane Entscheidung, die Rückfahrt von Karlshorst zurück nach Schöneberg
über das Stadtzentrum vorzunehmen, lässt sich nicht wirklich begründen,
und die damit zusmmenhängende Entscheidung, das Fahrrad schiebend die Eastsidegallery –
trotz verkehrstechnischer Einschränkungen – Richtung Innenstadt zu bewegen,
erst recht nicht. Bei dieser Gelegenheit ergab sich allerdings die Situation, das Graffito
„Justitia“ von Klaus Niethardt erstmals genauer in Augenschein zu nehmen –
bei einem früheren Besuch waren die Graffiti der EastSideGallery überwiegend nur
aus einem Fußgängertunnel eingeschränkt zu betrachten.