Mathematisches Kunstwerk des Monats Juli 2022
Fresko „Die Schule von Athen“ in der Parochialkirche in Berlin-Mitte
von
Wolfgang Volk
In der Parochialkirche (siehe unten) wird vom 11. März bis zum 7. August 2022 die
Ausstellung
Die großen Meister der Renaissance –
da Vinci, Michelangelo, Botticelli, Raffael gezeigt1).
Als
Renaissance (auf Deutsch: Wiedergeburt)
wird etwa der Zeitraum des 15. und 16. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung bezeichnet,
in der es um eine Wiederbelebung der kulturellen Errungenschaften der griechischen und römischen
Antike in Wissenschaft, Technik und Kunst ging. Eines der ausgestellten Werke – wobei in
dieser Ausstellung ausschließlich Repliken zu sehen sind – besitzt Bezüge zu
Mathematikern und zu mathematischen Themen, auf die im Folgenden detailliert eingegangen werden soll.
Es sei vorab darauf hingewiesen, dass vieles, was die Renaissance an Kunstwerken hervorgebracht hat,
ohne die Entdeckung und Entwicklung der Zentralperspektive durch den Baumeister
Filippo Brunelleschi (1377-1446,
siehe auch [7]) so nicht möglich gewesen wäre.
Das Werk, um das es hier geht, ist ein Fresko des Malers und Architekten
Raffaello Sanzio da Urbino (1483-1529,
oft kurz mit Raffael bezeichnet) das im Vatikan neben anderen die
Stanza
della Segnatura schmückt und gemeinhin „Die Schule von Athen“ genannt wird.
Die zentralen Figuren des Freskos stellen die Philosophen
Platon (etwa 427-347 v. Chr.) und
Aristoteles (384-322 v. Chr.) dar.
Platon zeigt mit einem Finger seiner rechten Hand nach oben und hält in seiner linken
sein Spätwerk in Dialogform
Timaios (italienisch: [Il] Timeo,
wie auf dem Buchrücken zu lesen ist). Platon erwarb um 387 v. Chr. einen Hain vom
attischen Helden Akademos in der Nähe von Athen und begann dort
philosophisch-wissenschaftlichen Unterricht zu erteilen und fortgeschrittene Schüler
zu Forschungen anzuregen; dies alles nach dem Vorbild der
Gemeinschaft der Pythagoreer in
Süditalien. Der Name des Hains (nach seinem ursprünglichen Besitzer) wurde später
auf die Schule übertragen. Man darf sicher davon ausgehen, dass die
Platonische Akademie nicht
so opulent – wie auf dem Fresko – ausgestaltet war.
Auch gehört wohl die Aussage, dass über dem Eingang seiner Akademie die Aussage
„Kein der Geometrie Unkundiger möge hier eintreten“ geschrieben stand,
in das Reich der Legenden.
Platons Schüler Aristoteles ist ebenfalls mit einem Buch auf dem Fresko dargestellt.
Der Titel auf dem Buchrücken ist nur teilweise zu erkennen, er beginnt mit den Buchstaben
„ETIC“, wobei der letzte Buchstabe nicht vollständig zu erkennen ist,
und endet mit einem „A“. Nicht auszuschließen, dass es sich hier um ein Buch
über Ethik handelt, ein Thema über das so viele Philosophen Schriften verfassten (Die
Interpretation in [9] benennt die
Nikomachische Ethik.)
Aristoteles wird auf jeden Fall die Forderung zugeschrieben, dass alle Aussagen (insbesondere
auch die mathematischen) zu beweisen sind [1].
Im Vordergrund ist rechts auf der Treppe fläzend
Diogenes (von Sinope, um 413-
um 323 v. Chr.) zu erkennen,
links unten, der Kopf des eher pessimistisch eingestellten
Heraklit (von Ephesos, um 520-
um 460 v. Chr.).
Spätestens jetzt wird offensichtlich, dass sich die abgebildeten Personen teilweise nie wirklich
begegnet sein können. (Von beiden genannten Philosophen sind keine mathematischen
Leistungen überliefert.)
Schräg links darunter im Vordergrund scheint die Zuordnung der sitzenden Person, die
mit einer Feder in ein Buch schreibt, zu
Pythagoras (um 570- nach 510 v. Chr.)
eindeutig.
Dahinter hält eine junge Person eine Tafel, auf der das Wort EΠOΓΛOΩN
(transliteriert: Epogloon) sowie darunter eine grafischen Darstellung und die
Tetraktys mit römischen Zahlsymbolen
wiedergegeben ist.
In [3, S. 111] wird ausgeführt, dass der Begriff Epogloon für das
Zahlenverhältnis 8:9 steht, das auch in der Harmonielehre, auf die sich die grafische
Darstellung bezieht, eine besondere Bedeutung einnimmt (siehe auch [4, S, 12], [6] und
[2, S. 116ff]).
Fragwürdiger ist die Zuordnung der hinter Pythagoras am Türgeviert kauernden Person zu
Anicius Manlius Severinus Boethius
(um 482-um 525, spätantiker römischer Gelehrter), der unter anderem Mathematikbücher
zu den Fächern des Quadriviums (Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie) verfasste.
(Diese Zuordnung mag durch die
Darstellung
in [5] motiviert sein, die aber keine wissenschaftliche Bedeutung besitzt.)
Ähnlich unsicher scheint die Zuordnung der in Weiß gekleideten Person zur
spätantiken Mathematikerin, Astronomin und Philosophin
Hypatia (um 355-um 415).
Die Darstellung von
Euklid (von Alexandria, 3. vorchristliches
Jahrhundert), der von Schülern umringt mit einem Stechzirkel eine Strecke einer nicht
genauer identifizierbaren Konstruktion abgreift, darf als gesichert gelten. Während in [9]
auch die Möglichkeit erwähnt wird, dass hier
Archimedes (um 287-212 v. Chr.)
wiedergegeben sein könnte, ist von diesem nicht bekannt, dass er Schüler gehabt hätte
während Euklid am Museuon von Alexandria lehrte [8].
Im Vordergrund des Freskos fällt eine weitere Personengruppe auf, die am rechten Rand
positioniert ist. Die bekrönte Figur im gelben Umhang, mit dem Rücken zum Betrachter
soll den Geografen und Mathematiker
Claudius Ptolemäus
(um 100-nach 160) darstellen,
der ein überraschend präzises Modell der Erdkugel in seiner linken Hand hält.
(Man beachte dabei, dass das Fresko um das Jahr 1510 gemalt wurde und die
Weltkarte
des
Martin Waldseemüller
im Jahr 1507, also nur wenige Jahre zuvor, gefertigt wurde.)
Bei dieser Darstellung und Interpretation mag die Namensähnlichkeit von Claudius Ptolemäus
und der ägyptischen Dynastie der Ptolemäer (Ptolemaios I. - XIII.) eine Rolle
spielen.
Die dem Zuschauer zugewandte Person, die einen Himmelsglobus in der Hand hält, soll
Zarathustra (1. oder 2. Jahrtausend
vor Christus) darstellen – zeitlich aus dem Rahmen fallend und
einem völlig anderen Kulturkreis zugehörig.
Gesichert ist hingegen, dass sich der Künstler auf dem Fresko selbst verewigt hat;
er schaut am rechten Bildrand (mit schwarzer Kopfbedeckung) den Betrachter an.
Die
Parochialkirche
gehört zu den historisch bedeutenden Gebäuden im sogenannten
Klosterviertel und wurde in den Jahren 1695 bis 1703 im Stil des Barock für die
Reformierte Gemeinde erbaut. Zur Aufnahme des Glockenspiels, das König
Friedrich Wilhelm I. gestiftet hat, erhielt sie im Jahr 1714 ihren Turm.
Am 29. Mai 1944 brandte die Kirche nach einem Bombenangriff bis auf die Mauern völlig aus.
Von 1991 bis 2016 wurde die Kirche denkmalgerecht wieder aufgebaut, wobei die Innenausstattung
nicht vorgenommen wurde. Die Wände sind im Innern unverputzt. Primär wird der
Kirchenbau für Kunstprojekte und sonstige Veranstaltungen genutzt.
Der Kirchhof der Parochialkirche gehört zu den wenigen erhaltenen Friedhöfen der
historischen Mitte Berlins.
Referenzen
[1] | Aristoteles: Organon, übersetzt von Julius von Kirchmann, Berliner Ausgabe, 4. Aufl., 2016. ISBN 978-1484030530 | |
[2] | Wolfgang Hein: Die Mathematik im Altertum –Von Algebra bis Zinseszins, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2012 | |
[3] | Wolfgang Jung: Über Szenografisches Entwerfen: Raffael und die Villa Madama, Vieweg, Braunschweig - Wiesbaden, 1997, ISBN 978-3-663-07757-2 | |
[4] | Stanisław Mossakowski: Raphael's “St. Cecilia”. An Iconographical Study, Zeitschrift für Kunstgeschichte, 31 (1968), Nr. 1, S. 1-26 | |
[5] | Gregor Reisch: Margarita philosophica, Freiburg, 1503 | |
[6] | Holger Ullmann: Raffaels Gemälde „Die Schule von Athen“ | |
[7] | Wolfgang Volk: Mathematisches Detail am Schadowhaus in Berlin-Mitte, Mathematischer Ort des Monats April 2018 | |
[8] | Wikipedia: Alexandrinische Schule | |
[9] | Wikipedia: Die Schule von Athen |
Bildnachweis
alle Fotos | Wolfgang Volk, Berlin, Juni 2022 Die Innenaufnahmen, Bilder vom Fresko, sind einer automatischen Farbkorrektur unterworfen worden, um die Farbverschiebung durch das Kunstlicht auszugleichen. |
1) Zuvor war diese Ausstellung in der
österreichischen Metropole Wien sowie den Städten Linz und Graz zu sehen.