Mathematischer Ort des Monats Dezember 2018
TP Müggelberg in Berlin-Köpenick
ergänzte Fassung anlässlich der Enthüllung einer
Informationstafel am 19. Juni 2022
von
Wolfgang Volk
Kartesische Koordinatensysteme (benannt nach dem französischen Philosophen und Mathematiker
René Descartes [1596-1650])
haben sich nicht nur bei der Darstellung von Funktionsgraphen und statistischen Verteilungen
bewährt – insofern dürften sie den meisten aus der Schulzeit bekannt sein –,
sondern auch im Vermessungs- und Katasterwesen. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg.
Bekanntlich ist der Erdglobus kugelförmig, in zweiter Näherung ein Rotationsellipsoid
mit einer recht geringen Abplattung von etwa 1:2981);
soweit die Figuren, die sich (mit wenigen Parametern) mathematisch beschreiben lassen.
Versehen sind beide mit einem Gradnetz, geografische Länge und geografische Breite sind die
beiden Angaben, die Punkte auf den Oberflächen dieser Körper, welche das Meeresniveau
repräsentieren, beschreiben. Nord- und Südpol bilden in diesem Sinn Singularitäten.
Genauso bekannt ist, dass sich die Oberfläche einer Kugel oder eines Ellipsoids oder Teile davon
nicht verzerrungsfrei in eine Ebene abbilden lassen.
Zunächst soll aber ein wenig der geschichtliche Hintergrund beleuchtet werden, der zur
Einführung kartesischer Koordinatensysteme in der Landesvermessung führte.
Im Jahr 1789 begann mit dem Sturm auf die
Bastille der Beginn der
Französischen Revolution,
in deren Folge (ab 1798) zum Zwecke der Erhebung einer Grundsteuer die Grundstücke in ihrer Gesamtheit
vermessen und deren Flächenmaße bestimmt werden sollten [7]. Es sei ergänzend darauf
hingewiesen, dass am 29. November 1800 das Meter als der 10-millionste Teil des Erdquadranten auf dem
Meridian von Paris in Frankreich – nach einigen früheren
Ansätzen – endlich gesetzlich eingeführt wurde [4].
Die Französische Revolution hatte auf die Strukturen von und die Machtverhältnisse in ganz
Europa nachhaltigen Einfluss. Im Nachgang zur Revolution gelangte
Napoleon Bonaparte an die Macht und
unterwarf zeitweise große Teile Europas (und nicht nur die, man denke auch an den Ägyptenfeldzug,
an dem auch einige Mathematiker [z. B.
Joseph Fourier2) und
Gaspard Monge] teilnahmen).
Ohne die Franzosenzeit im
Detail zu betrachten, können für das Vermessungswesen auf deutschem Boden die
nachstehend beschriebenen Sachverhalte festgehalten werden.
1808 ordnete Napoleon auch eine allgemeine Parzellarvermessung für die linksrheinischen
Gebiete an [7]. Auch in Bayern ordnete die damalige französische Verwaltung eine Vermessung des
Landes an. Diese wurde in den Jahren 1808-1853 durchgeführt [2]. Als Grundlage dafür
wurde von
Johann Georg Soldner (1776-1833)
ein nach Norden orientiertes kartesisches Koordinatensystem eingeführt,
als dessen Koordinatenursprung die Helmstange des nördlichen Turms der Münchner Frauenkirche (eigentlich:
Dom zu Unserer Lieben Frau) festgelegt wurde. Hierbei wird der Meridian durch den Ursprung längentreu
abgebildet, genauso wie die Abstände der einzelnen Punkte von diesem Meridian
(mittabstandstreue Abbildung auf einen Zylinder). Dadurch entstehen beiderseits des Zentralmeridians
Längenverzerrungen in Nord-Süd-Richtung.
Ergebnis dieser Vermessungsarbeiten ist unter anderem ein Kartenwerk des Landes Bayern, dessen
Blattschnitt sich naheliegenderweise am Soldner-Koordinatensystem orientiert (siehe [1]).
Auf diesem Urpositionsblatt sind am linken und oberen Rand gut eine „Kilometrierung“
durch römische (vertikal) und arabische (horizontal) Zahlen zu erkennen.
Allerdings ist der Begriff Kilometrierung in dem Sinne ungeeignet, dass das metrische System in
Bayern erst 1872 eingeführt wurde [6]. Man darf vermuten, dass die Urpositionsblätter
16 (= 4×4) Planquadrate mit Kantenlängen von 100.000 Zoll (1 Zoll = 24,3216mm) abbilden.
Die römischen und arabischen Zahlen sind vorzeichenlos angegeben, woraus sich gut ableiten
lässt, wo der Koordinatenursprung zu suchen ist.
Auch in anderen deutschen Landen – das Heilige Römische Reich deutscher Nation
hatte 1806 in der Folge der
Napoleonischen Kriege aufgehört
zu existieren, man spricht nur noch vom deutschen Bund – wurden Soldner-Koordinatensysteme
etabliert: für das Großherzogtum Baden mit der
Mannheimer Sternwarte als Nullpunkt,
für das Königreich Württemberg mit der
Sternwarte des Schlosses Hohentübingen
als Nullpunkt (1818) usw.
Bei der Konzeption des preußischen Liegenschaftskatasters wurden 1879 – wegen
der Beschränkungen der Ost-West-Ausdehnung – die Einführung von 40 verschiedenen (lokalen)
Soldner-Koordinatensystemen angeregt, deren Ursprünge jeweils ein
Trigonometrischer Punkt der
Landesvermessung I. oder II. Ordnung sein sollte. Während in Bayern als Referenzfläche
eine das Erdellipsoid approximierende Kugel verwendet wurde, bezog man sich in Preußen
auf das Besselsche Erdellipsoid.
Friedrich Wilhelm Bessel
hatte 1841 aus verschiedenen Gradmessungen den Äquatorradius und die Abplattung der Erde
neu bestimmt. Es bildete bis ins 21. Jahrhundert hinein die Grundlage des Vermessungswesens
in (West-)Deutschland.
So wurde der Trigonometrische Punkt auf dem Müggelberg zum Koordinatenursprung des 18.
preußischen Soldner-Systems. Die Bedeutung dieses Punktes wäre ähnlich schnell
verblasst, wenn dieses Soldner-System nicht nach dem 2. Weltkrieg wieder neue Bedeutung erlangt
hätte.
Auf der Grundlage geodätischer Aufzeichnungen von
Carl Friedrich Gauß
erarbeitete
Johann Heinrich Louis Krüger
eine Methode der winkeltreuen (konformen) Abbildung des Erdellipsoids auf einen abrollbaren
elliptischen Zylinder (veröffentlicht 1912).
Diese auf 3° bzw. 4° breite Meridianstreifen beschränkten Abbildungen sind
hinlänglich als
Gauß-Krüger-Koordinatensysteme
mit den Zentralmeridianen 6°, 9°, 12° usw. östlich von Nullmeridian von
Greenwich bekannt und wurden ab 1923 sukzessive deutschlandweit eingeführt.
Die Winkeltreue dieser Abbildung(en) führt zu einer richtungsunabhängigen Größenänderung
von Strecken und Flächen im Kleinen. Dies bedeutet, dass aus Koordinaten berechnete
Flächeninhalte von Flurstücken und
aus Koordinatenunterschieden berechnete Längen von Flurstücksgrenzen durch einen vom Abstand
vom Zentralmeridian abhängigen Faktor recht genau auf deren „wahre“ Größe
reduziert werden können.
In den 1° breiten Überlappungsbereichen benachbarter Gauß-Krüger-Systeme
mussten Punkte in beiden beteiligten Koordinatensystemen geführt werden. Und nun verläuft
der Grenzmeridian zwischen den 4. und 5. Meridianstreifen geradewegs durch Berlin
(siehe [3, S. 229]).
Dieser Umstand mag Prof. Fritz Hunger3) dazu bewogen haben,
1953 die Weiterverwendung des 18. Soldner-Koordinatensystems zu empfehlen (siehe [5, S. 24]).
So kam es, dass zumindest in West-Berlin bis noch vor wenigen Jahren das 18. Soldner-Koordinatensystem
Verwendung fand.
Seit dem 1. Mai 2018 ist die historische
Gaststätte Müggelturm nebst dem Turm
nach langen Jahren wieder geöffnet. Und so kann auch wieder der trigonometrische Punkt,
der den Koordinatenursprung des 18. preußischen Soldner-Systems markiert, mit
einigen Einschräkungen besichtigt werden. In [5] ist noch beschrieben, dass der TP-Pfeiler
sich in einem Wintergarten befand. Nach dem Umbau steht er normalen Besuchern der Gaststätte
eigentlich nur im Weg.
Deshalb hat er eine schützende Ummantelung aus Messing erhalten, die jedoch die Sicht auf
die wesentlichen Merkmale erlaubt.
So ist oben das eingemeißelte Kreuz, das den Koordinatenursprung markiert, zu erkennen;
ferner, wie bei Trigonometrischen Punkten üblich, an der Südseite die Buchstaben
„TP“. Auf der nördlichen Seite des Steins liest man den Hinweis
„System // Müggelberg // 1857“, dort wo bei normalen Trigonometrischen Punkten
üblicherweise nur ein gleichseitiges Dreieck zu sehen ist.
Am 19. Juni 2022 wurde von Vertretern des Landesbetriebs für
Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg
(LGB) und der
Gesellschaft für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement
(DVW5))
die nachstehend abgebildete Informationstafel unmittelbar am Aufgang zum Restaurant und zum
Müggelturm enthüllt (vergleiche den Artikel von Philipp Hartmann mit dem Titel
„Am
Fuße des Müggelturms befindet sich jetzt eine Informationstafel zum Standort“ in der
Berliner Woche und der Pressemitteilung des LGB
Vermessungsgeschichte
zum Anfassen – Informationstafel auf dem Berliner Müggelberg enthüllt
vom 30. Juni 2022).
Die Informationstafel zeigt einen unregelmäßig berandeten Ausschnitt einer
zusammengesetzten historischen Landkarte des Gebiets um Müggelberg und Müggelsee sowie
(unten links) eine Übersicht über die „Dreieckspunkte 1. Ordnung der Trigonometrischen
Abteilung der Königlichen Preußischen Landesaufnahme aus dem Jahr
18956). Der erläuternde Text der
Informationstafel führt in groben Zügen die Prinzipien der
Landesvermessung7) aus und benennt die geschichtlichen
Entwicklungen im Zusammenhang mit den in und um Berlin vorgenommenen Messungen.
Während in der Landesvermessung mit geografischen Koordinaten (geografische Länge und
Breite) operiert wird, bedient man sich beim Liegenschaftskataster kartesischer Koordinatensysteme.
Diejenigen, die im heutigen Stadtgebiet Berlins zum Einsatz kamen und kommen werden auf der Tafel
benannt. (Dabei ist zu beachten, dass erst mit der Bildung Groß-Berlins 1920 das
Bedürfnis nach einem einheitlichen [kartesischen] Koordinatensystem entstand, wobei die
Insellage West-Berlins dafür sorgte, dass bis zur Mitte der 2010-Jahre das 18. Soldnersystem
die Grundlage des Liegenschaftskatasters bildete.)
Weiterhin sind der Informationstafel Details zur touristischen Entwicklung des Kleinen
Müggelbergs – insbesondere des alten und des neuen Müggelturms –
zu entnehmen. Die Beschreibungen werden durch ein Gedicht von
Theodor Fontane abgerundet.
Die Ausgestaltung der Informationstafel wurde von Auszubildenden des LGB konzipiert.
Referenzen
[1] | Bayerische Landesbibliothek Online: Die Urpositionsblätter der Landvermessung in Bayern – Übersichtskarte | |
[2] | Bayerische Landesbibliothek Online: Geschichte der Landvermessung in Bayern | |
[3] | Karl Fricke, Joachim Richter und Kurt Schneider: Der Vermessungstechniker – Messen · Rechnen · Zeichnen, 2. Aufl., Gebr. Jänecke Verlag, Hannover, 1966 | |
[4] | Johann Leupold: Das metrische System | |
[5] | Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg (LGB) und DVW Berlin-Brandenburg e. V. (Hrsg.): Auf den Spuren der Landesvermessung in Berlin und Brandenburg4), Broschüre März 2014, ISBN 978-3-7490-4187-9 | |
[6] | Wikipedia: Alte Maße und Gewichte (Bayern) | |
[7] | Wikipedia: Kataster | |
[8] | Wikipedia: DVW – Gesellschaft für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement |
Bildnachweis
Informationstafel | Wolfgang Volk, Berlin, Juli 2022 | |
alle anderen fotografischen Aufnahmen | Wolfgang Volk, Berlin, September 2018 | |
Urpositionsblatt München | Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Landvermessung_in_Bayern_-_Urpositionsblatt_692_(M%C3%BCnchen).jpg |
1) Die Parameter des
World Geodetic System 1984 (WGS84)
lauten:
große Halbachse a (Radius des Äquators) = 6.378.137m,
Abplattung f = 1:298,257.223.563 und damit die
kleine Halbachse (halbe Länge der Polachse) b = a(1-f) ≈ 6.356.752,314m.
große Halbachse a (Radius des Äquators) = 6.378.137m,
Abplattung f = 1:298,257.223.563 und damit die
kleine Halbachse (halbe Länge der Polachse) b = a(1-f) ≈ 6.356.752,314m.
2) Deren Grabstätten weisen unter anderen deutliche
Bezüge auf die damalige Ägyptologie-Euphorie auf (siehe z. B.
Grab von Jean Baptiste Joseph Fourier in Paris aber
auch die
Grabstätte von Louis Poinsot).
3) In den Jahren 1973/74 hörte der Autor an der
Technischen Universität Berlin bei Prof. Fritz Hunger den Vorlesungszyklus Landesvermessung
I und II.
4) Der Artikel ist auch online im Portal der
LGB verfügbar, doch hat sich die
Internetadresse in jüngster Zeit öfters geändert, so dass nun kein direkter Verweis
mehr angegeben wird.
5) Das Kürzel „DVW“ leitet sich aus der
Bezeichnung Deutscher Verein für Vermessungswesen ab, unter der die
Gesellschaf für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement nach dem 2. Weltkrieg
neu gegründet wurde. Die Umbenennung erfolgte im Rahmen einer Satzungsänderung im Jahr
2010 [8].
6) Vergleiche hierzu auch die Gestaltung des
technisch-historischen Denkmals
Trigonometrischer Punkt Rauenberg in Berlin-Tempelhof.
7) Hier ist zwischen Landes- und Landvermessung zu
unterscheiden. Bei der Landesvermessung geht es unter anderem darum, die Grundlagen für das
Liegenschaftskataster zu erarbeiten (vergleiche Fußnote 2).
Die Arbeiten zum Erstellen und Fortführen des Liegenschaftskatasters bezeichnet man gemeinhin
als Landvermessung.