Mathematiker des Monats September 2021
Hans Reichardt (1908-1991)
von
Günter Bärwolff
Geboren wurde Hans Reichardt am 2. April 1908 in Altenburg (Thüringen). Sein Vater war Arzt.
Er besuchte das Humanistische Gymnasium in Altenburg, wo er unter anderen die drei klassischen
Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch lernte. 1925 begann er in Jena Mathematik, Physik
und Philosophie zu studieren. 1928 verließ er Jena für ein Semester in Königsberg
(Ostpreußen, heute Kaliningrad). Danach wechselte er nach Berlin, wo er mathematische
Vorlesungen von
Ludwig Bieberbach,
Richard von Mises,
Erhard Schmidt und
Issai Schur besuchte.
Darüber hinaus besuchte er in Berlin Physik-Vorlesungen von
Albert Einstein,
Max Planck und
Max von Laue.
Besonders beeindruckt von den Vorlesungen Schurs konzentrierte sich Reichardts Interesse auf die
Algebraische Zahlentheorie.
1931 wechselte er für ein Semester nach Hamburg, um mehr über die Algebraische Zahlentheorie bei
Erich Hecke und
Emil Artin zu hören.
Danach setzte Hans Reichardt sein Studium der Mathematik, Physik und
Philosophie in Marburg fort. In dieser Zeit wurde er von
Helmut Hasse betreut und wurde 1932 mit dem Thema
„Arithmetische Theorie der kubischen Körper als Radikalkörper“ promoviert.
Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 wurden die jüdischen Hochschullehrer sukzessive
aus den Universitäten vertrieben. Reichardt wurde ohne echte Überzeugung Mitglied der
NSDAP, was eine Arbeit in Lehre und Forschung an einer Universität ermöglichte.
1934 legte er sein Lehramtsexamen ab und wurde an die Universät Frankfurt am Main als
Assistent von
Carl Ludwig Siegel,
der als Nicht-Jude ungestört lehren und forschen konnte, berufen. Aber auch
Paul Epstein,
Ernst Hellinger sowie
Max Dehn konnten trotz ihres jüdischen
Glaubens weiter an der Universität arbeiten, da sie als deutsche Soldaten am Ersten Weltkrieg
teilgenommen hatten.
Otto Szász hingegen entschied
sich in dieser Zeit für die Emigration in die USA. Da Reichardts Stelle auf ein Jahr befristet
war, wechselte er 1935 nach Jena als Assistent von
Friedrich Karl Schmidt.
Er blieb 2 Jahre in Jena und schrieb in dieser Zeit vier Arbeiten zu algebraischen Strukturen.
1937 ging Hans Reichardt an die Universität Leipzig, wo er unter dem kurz zuvor berufenen
Bartel van der Waerden
auf dem Gebiet der Algebraischen Zahlentheorie und inversen Problemen aus der
Galois-Theorie arbeitete.
Im März 1939 reichte er an der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig seine
Habilitationsschrift über die
Diophantische Gleichung
a x4 + b x2y2
+ c y4 = e z2 ein [5],
und wurde 1940 Dozent in Leipzig. Während des 1939 beginnenden Krieges behielt Reichardt seine
Position an der Universität Leipzig, arbeitete aber gleichzeitig an militärischen Themen
der Marine und der Luftwaffe in Peenemüunde, sowie ab 1943 auch bei der Telefunken AG,
einer Firma, die auch Radar-Geräte zur Abwehr von allierten Bomben-Angriffen entwickelte und
baute.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Hans Reichardt von 1946 bis 1952 als Mitglied einer Gruppe
deutscher Wissenschaftler im Rahmen von Reparationsleistungen, die durch den Alliierten Kontrollrat
verabredet wurden, in der Sowjetunion auf dem Gebiet der
Raketen-Technologie auf Gorodomlja, einer Insel im Seligersee im Quellgebiet der Wolga, tätig.
Außer Hans Reichardt gehörten dieser Gruppe unter anderen auch die Ingenieure
Helmut Gröttrup und
Werner Albring an.
Eine sehr eindrucksvolle Darstellung dieser Zeit findet man in [1].
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland erhielt Reichardt 1952 eine außerordentliche
Professur an der Humboldt-Universität zu Berlin und wurde 1954 als ordentlicher Professor
an dieselbe Universität berufen. Mit seinem Lehrstuhl vertrat er neben der Differentialgeometrie
[3] in der Lehre auch die Vektor- und Tensorrechnung [6]. 1969 und 1970 besuchte der Autor an der
Humboldt-Universität seine Vorlesungen über Differentialgeometrie. In Berlin betreute und
begleitete er als Lehrer unter anderen
Helmut Boseck,
Gunter Schwarze,
Rolf Sulanke,
Helmut Koch,
Manfred Peschel,
Thomas Friedrich und
Ernst-Wilhelm Zink
auf ihrem Weg zur Promotion beziehungsweise Habilitation.
Alle Genannten erlangten Positionen als ordentliche Professoren und gründeten erfolgreich
eigene Schulen.
Reichardt interessierte sich neben der mathematischen Forschung auch für die Geschichte der
Mathematik. Dies führte auch zu seiner Würdigung von Gauß anlässlich
dessen 100. Todestags 1955 als Herausgeber einer Sammlung von Originalarbeiten [7].
M. R. Fréchet mit
H. Reichardt 1954 an der Humboldt-Universität zu Berlin
1959 wurde Hans Reichardt neben seiner Tätigkeit an der Universität als Direktor des
Instituts für Reine Mathematik der
Deutschen Akademie der
Wissenschaften ernannt und leitete dort eine Forschungsgruppe zur Zahlentheorie.
Er gehörte dem Herausgebergremium des
Journals
für die reine und angewandte Mathematik an.
Anfang der 1960er Jahre war Reichardt Mitinitiator der Mathematik-Olympiaden der DDR und
gemeinsam mit
Heinrich Grell Begründer unf
Förderer der auf Mathematik und Physik spezialisierten Erweiterten Oberschule
„Heinrich Hertz“ in Berlin (heute
Heinrich-Hertz-Gymnasium).
A. N. Kolmogoroff mit
H. Reichardt 1955 an der Humboldt-Universität zu Berlin
H.-J. Treder mit H. Reichardt
1985 vor dem Einsteinhaus in Caputh
Seit 1962 war er korrespondierendes und seit 1964 ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie
der Wissenschaften zu Berlin und seit 1962 Mitglied der
Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina.
Hans Reichardts engangierte Arbeit als Hochschullehrer und Wissenschaftsorganisator wurde mehrfach
mit hohen Auszeichnungen gewürdigt, er erhielt zweimal den Nationalpreis und einmal den
Vaterländischen Verdienstorden der DDR. Eine Auszeichnung mit dem Nationalpreis erhielt er als
Mitglied einer Gruppe von Mathematikern für die Mitarbeit und Gutachtertätigkeit am sehr
beliebten Kompendium „Kleine Enzyklopädie Mathematik“ [4]. Auch nach seiner
Emeritierung 1971 war er weiter mathematisch aktiv und widmete sich verstärkt Themen der
Mathematikgeschichte.
Am 4. April 1991 starb Hans Reichardt in Berlin. Er ist auf dem Georgen-Parochial-Friedhof V im
Berliner Bezirk Friedrichshain bestattet (siehe den
Mathematischen Ort des Monats Juni 2018).
Referenzen
[1] | Werner Albring: Gorodomlia. Deutsche Raketenforscher in Russland, hrsg. von Hermann Vinke, Luchterhand, Hamburg, 1991 | |
[2] | Biografische Datenbanken der Bundesunmittelbaren Stiftung öffentlichen Rechts/Bundestiftung Aufarbeitung | |
[3] | Wilhelm Blaschke und Hans Reichardt: Einführung in die Differentialgeometrie, 2. Aufl., Grundlehren der mathematischen Wissenschaften 58, Springer-Verlag, Berlin usw., 1960 | |
[4] | Walter Gellert, Herbert Küstner, Manfred Hellwig und Herbert Kästner: Kleine Enzyklopädie Mathematik, Bibliographisches Institut, Leipzig, 1965 | |
[5] | Hans Reichardt: Über die Diophantische Gleichung a x4 + b x2y2 + c y4 = e z2, Sonderdruck der Mathematischen Annalen 117, Heft 2 (1940) | |
[6] | Hans Reichardt: Vorlesungen über Vektor- und Tensorrechnung, Hochschulbücher für Mathematik, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin, 1957 | |
[7] | Hans Reichardt: Gauß und die Anfänge der Nicht-Euklidischen Geometrie, Teubner-Archiv zur Mathematik, 1957 |
Bildnachweis
Porträt | Heinz Schadewald, mit freundlicher Genehmigung der Humboldt-Universität Berlin, Quelle: Porträtsammlung Berliner Hochschullehrer, Foto, Porträt, Hans Reichardt | |
Alle anderen Schwarz-Weiß-Fotos | entstammen dem privaten Foto-Archiv der Familie Verena Thiele, geb. Reichardt und sind hier mit freundlicher Genehmigung wiedergegeben. | |
Grabtafel | Wolfgang Volk, Berlin, Juni 2008 |