Mathematiker des Monats Mai/Juni 2023
Hermann Cäsar Hannibal Schubert (1848-1911)
anlässlich seines 175. Geburtstags am 22. Mai 2023
von
Peter Ullrich
Hermann Schubert, der Begründer des Kalküls der abzählenden Geometrie,
wurde an der Universität Halle-Wittenberg promoviert, unterrichtete am Gymnasium
Andreanum in Hildesheim – unter anderem
Adolf Hurwitz (1859-1919) – und wirkte über
30 Jahre lang an der Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg, zuletzt als
Gymnasialprofessor.
Er war Mitglied des Gründungsvorstands der
Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV)
und Verfasser des ersten Artikels der von
Felix Klein (1849-1925) koordinierten
„Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften“.
Seine akademische Wurzeln jedoch liegen in Berlin: Ausschließlich hier hat er studiert,
und es war eine der zentralen Figuren der Berliner Mathematik, die ihn zu der
abzählenden Geometrie anregte.
Jugend, Studium und Promotion
Hermann Schubert wurde am 22. Mai 1848 als Sohn eines Gasthofbesitzers in Potsdam geboren.
(Seine neben „Hermann“ weiteren Vornamen „Cäsar“ und
„Hannibal“ führte er nicht, zumindest nicht bei Veröffentlichungen.
Da der Vorname „Hermann“ seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit
„Arminius“ gleichgesetzt wurde, liegen in der Liste dieser Namen
Sieg und Niederlage für das römische Reich nahe beieinander.)
Er besuchte zunächst in Potsdam die Realschule und dann in Spandau das Gymnasium.
Vom Sommersemester 1867 bis zum Wintersemester 1869/70 studierte er an der
Friedrich-Wilhelms-Universität
zu Berlin die Fächer Mathematik und Physik und zwar – laut seiner
Promotionsakte – bei
„Dove, Harms, Hoppe, Kronecker, Kummer, Magnus, Poggendorff, Quincke, Raumer,
Rose, Solly, Trendelenburg und Weierstraß“.
Sieht man von dem eher bildungsfernen Familienhintergrund Schuberts ab,
so war dies bisher ein durchaus üblicher Bildungsweg für Mathematiker,
die zu jener Zeit in Berlin studierten und vielleicht auch promovierten.
Im Zusammenhang mit seiner Dissertation zeigt sich jedoch Überraschendes:
Das Themengebiet seiner Arbeit „Zur Theorie der Charakteristiken“,
die als Dissertation angenommen wurde, schließt an Veröffentlichungen von
Michel Chasles (1793-1880) und
Ernest
de Jonquières (1820-1901) an und gehört damit zur synthetischen Geometrie.
Damit lässt es sich keinem der Forschungsgebiete eines der damaligen Berliner Ordinarien
zuordnen, nicht einmal einem der (damals nicht als Gutachter bei Promotionen zugelassenen)
dortigen Extraordinarien oder Privatdozenten.
Eigentlich hätte die Thematik zu einem Vertreter der nach
Alfred Clebsch (1833-1872)
benannten und nach dessen Tod von Klein angeführten mathematischen Schule gepasst,
und in der Tat eröffnete später Klein Publikationsmöglichkeiten für
Schubert.
Bislang wurde vermutet,
Ernst Eduard Kummer (1810-1893) habe Schubert zur
Geometrie gebracht, da dieser bei ihm im Wintersemester 1867 eine Vorlesung über
Analytische Geometrie und im Sommersemester 1869 eine über Kubische Flächen
gehört hatte.
In seinem Nachruf auf
Karl Weierstraß (1815-1897) schreibt Schubert
jedoch ganz explizit:
„Obwohl Weierstraß
seine Produktionskraft fast ausschließlich auf Funktionentheorie konzentrierte,
so verfolgte er doch auch mit Interesse die Fortschritte in anderen Teilen der Mathematik.
[…] Im Seminar regte er oft zu andern als funktionentheoretischen Studien an.
Auch ich selbst wurde 1869 von ihm veranlaßt, die damals neuen Arbeiten von Chasles
über Charakteristiken (in den Comptes rendus) durchzudenken und darüber im
Seminar vorzutragen.
Ich that es und habe seitdem nicht aufgehört, in der mir von Weierstraß
angedeuteten Forschungsrichtung weiter zu arbeiten. Denn die Keime meiner
Abzählungs-Methoden steckten in jenem Seminarvortrag.“
Diesen Vortrag im Weierstraßschen Seminar arbeitete Hermann Schubert aus und reichte das
Manuskript unter dem Titel „Zur Theorie der Charakteristiken“ mit Datum vom
18. März 1870 beim
Journal
für die reine und angewandte Mathematik zur Publikation ein,
dessen damals fünf Herausgeber allesamt in Berlin tätig waren.
Es wurde auch angenommen und – immerhin im Umfang von 21 Druckseiten –
bereits im gleichen Jahr veröffentlicht.
Das war allerdings wohl das Maximum dessen, was die universitäre Mathematik in Berlin
für ihn zu tun bereit war. Zum Promovieren wandte sich Schubert nämlich an den Standort
Halle der Universität Halle-Wittenberg.
In der Mathematik gab es dort im Jahr 1870 die Ordinarien
Heinrich Eduard Heine (1821-1881) und
Otto August Rosenberger
(1800-1890) sowie die Privatdozenten
Georg Cantor (1845-1918) und
Carl Johannes Thomae (1840-1921).
Die naheliegende Vermutung, Schubert wäre zum Promovieren nach Halle gegangen,
weil einer der dortigen Lehrenden einen Schwerpunkt in der synthetischen Geometrie
gehabt hätte, ist irrig:
Dieses Fachgebiet wurde allein in der Lehre vertreten, und zwar von Thomae, der aber als
Privatdozent für die formale Betreuung einer Promotion nicht zur Verfügung stand.
Stattdessen waren es wohl die geringen formalen Hürden des in Halle praktizierten
Promotionsverfahrens, die Schubert zu seiner Wahl veranlassten:
Man konnte dort als Externer promovieren, also, ohne dort studiert zu haben.
(In der Tat hat Schubert – entgegen anderslautenden Behauptungen –
überhaupt nicht in Halle studiert, nicht einmal das Sommersemester 1870,
in dem er am 22. Juli 1870 das Rigorosum ablegte und im Anschluss daran promoviert wurde.)
Und man konnte in Halle eine bereits publizierte Arbeit als Dissertation einreichen,
wie Schubert es mit seinem Artikel „Zur Theorie der Charakteristiken“ tat.
(Daneben legte er zwei weitere bereits veröffentlichte Arbeiten vor.)
Das darauffolgende Jahr verbrachte Schubert als Hilfslehrer an der Realschule Erster
Ordnung in Potsdam, bis er am 14. November 1871 die volle Lehrbefähigung für
Mathematik und Physik an höheren Schulen erhielt.
Erste Jahre als Gymnasiallehrer in Hildesheim
Seine erste reguläre Lehrerstelle trat Hermann Schubert am Gymnasium
Andreanum in Hildesheim an,
wo er von Anfang 1872 bis Ostern 1876 wirkte. Anlässlich dieser wirtschaftlichen
Absicherung gründete er auch eine Familie: Im Jahr 1873 heirateten er und die aus Berlin
stammende Anna Hamel (1850-1925); das Ehepaar hatte vier Töchter.
Weiterhin wurde Schubert im Jahr 1875 die Goldene Medaille für wissenschaftliche
Verdienste der
Königlich
Dänischen Akademie der Wissenschaften zu Kopenhagen für die
Lösung der Preisaufgabe „Ausdehnung der Charakteristiken-Theorie auf cubische
Raumcurven“ verliehen.
Diese Aufgabe stammte von
Hieronymus Georg Zeuthen
(1839-1920),
mit dem Schubert seit 1870 in Kontakt stand. Das Verhältnis der beiden war
äußerst kollegial;
so nahm die Stellung der Preisaufgabe Bezug auf einen Artikel „Die Charakteristiken der
ebenen Curven dritter Ordnung im Raume“, den Schubert ein Jahr zuvor veröffentlicht
hatte.
Einer von Schuberts Schülern in Hildesheim war Adolf Hurwitz.
Dieser traf mit Schubert im Jahre 1874 als Tertianer am Andreanum zusammen,
woraufhin „bald die Mathematik [s]ein Lieblingsfach wurde“.
Insbesondere gab Schubert ihm und seinem älteren Bruder Julius (1857-1919)
sonntags kostenfreien Privatunterricht zur synthetischen Geometrie,
speziell zu seinen eigenen Forschungen in der abzählenden Geometrie.
Im Jahr 1876 konnte der damals erst 17-jährige Adolf seine Fähigkeiten
eindrucksvoll unter Beweis stellen:
Chasles hatte 1864 einen Satz über Charakteristiken behauptet,
aber nicht bewiesen, zu dem
Georges Henri Halphen (1844-1889)
in den
Comptes
rendus
der Sitzung der Pariser Akademie vom 4. September 1876 vermeintliche Gegenbeispiele angab.
Schubert klärte erst die Begrifflichkeiten in einer Weise, die vorhandene
Missverständnisse ausräumte, und Adolf Hurwitz lieferte dann einen dazu passenden
Beweis dieses Satzes.
Dies führte noch im gleichen Jahr zu der gemeinsamen Arbeit
„Über den Chasles'schen Satz αμ + βν“
von Hurwitz und Schubert.
Da war Schubert jedoch schon nicht mehr in Hildesheim tätig.
Gymnasial- und akademischer Lehrer in Hamburg
Zu Ostern 1876 wechselte Hermann Schubert als Oberlehrer an die 1529 gegründete
Gelehrtenschule
des Johanneums.
Im Heft 4 von deren Ehemaligen-Zeitschrift aus dem Jahr 1928 finden sich
Berichte über seine Tätigkeit als Gymnasiallehrer, aus denen ersichtlich wird,
dass allgemein seine hohe Fachkompetenz anerkannt wurde und auch seine Fähigkeit,
mathematische Inhalte mit Problemen des täglichen Lebens zu verknüpfen.
Zwar hatte er „eine unzweifelhafte Vorliebe für die akademische und literarische
Lehrform“, bevorzugte also den Frontalunterricht.
Von den anderen Lehrkräften des Johanneums, deren Verhältnis zu den Schülern
das „des römischen Herrn zu seinem Sklaven“ war, setzte er sich aber dadurch ab,
dass er „in der Form eines Universitätsprofessors seinen Studenten gegenüber“
mit seinen Schülern umging.
Im Jahr 1883 wurde das seit 1613 dem Johanneum angegliederte Akademische Gymnasium,
mit dem Schubert nichts zu tun hatte, aus Mangel an Schülern geschlossen.
Die Zeit bis zur Gründung der Universität Hamburg im Jahr 1919 wurde
durch ein öffentliches Vorlesungswesen sozusagen überbrückt.
An diesem beteiligte sich Schubert seit 1882 mit Engagement,
wobei er ab dessen Reorganisation zum Vorlesungsjahr 1895/96 einen sechs-,
später sogar achtsemestrigen Vorlesungszyklus über Mathematik hielt und
dabei einen Publikumserfolg von regelmäßig 30 bis 50 Teilnehmenden hatte.
Die Bezahlung Schuberts am Johanneum war mit der eines Professors an einer
kleineren Hochschule vergleichbar.
Einen kurz nach seinem Wechsel nach Hamburg erfolgten Ruf auf einen Lehrstuhl an die
Technische Hochschule in Darmstadt lehnte er ab und blieb stattdessen am Johanneum.
Ganz allgemein war Schubert jedoch „für wissenschaftliche Ehrungen nicht
unempfindlich“:
Über die Verleihung der Goldenen Medaille der Dänischen Akademie im Jahr 1875 hinaus
wurde er 1876 Mitglied derSociété Mathématique de France,
im Jahr 1884 Mitglied der Leopoldina und 1894 Ehrenmitglied der
niederländischen Wiskundig Genootschap. Die Beförderung zum (Gymnasial)Professor
erfolgte 1887.
Wirken in Wissenschaftlichen Vereinigungen
In Folge seiner wissenschaftlichen Kontakte zu Felix Klein und der räumlichen Nähe
Hildesheims zu Göttingen war Schubert bereits in die Vorbereitung der von Klein
maßgeblich geplanten Versammlung von 52 deutschen Mathematikern in Göttingen im
April 1873 eingebunden gewesen. Daher braucht es nicht zu verwundern, dass Klein für ihn
auch eine besondere Rolle vorgesehen hatte, als am 18. September 1890 auf der Versammlung der
Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ)
in Bremen die DMV gegründet wurde. Als „norddeutscher Mathematiker“
(nach Kleinscher Klassifikation) und Vertreter der Mathematiklehrer zählte Schubert nicht
nur zu den 33 Gründungsmitgliedern, sondern wurde auch gleich in den Gründungsvorstand
gewählt.
Allerdings schied Schubert bereits 1893 wieder aus dem Vorstand mit der Begründung aus,
er könne keinen Urlaub nehmen, um an den nächsten Versammlungen der DMV teilzunehmen.
Dieser Grund klingt eher vorgeschoben, da Schubert bei seiner Wahl in den Vorstand der
DMV klar gewesen sein musste, dass diese auch Versammlungen veranstalten würde.
Jedenfalls war sein Verhältnis zur DMV im Folgenden eher gespannt:
Als im Jahr 1901 die Versammlung der GDNÄ in Hamburg stattfand und er deren
mathematisch-astronomische Abteilung organisierte, suchte er keinesfalls die Abstimmung mit
der DMV, sondern agierte unabhängig von dieser.
Dies war allerdings in dem Sinne kein Einzelfall, als Schubert gerade im gleichen
Jahr auch Probleme mit der
Mathematischen Gesellschaft in Hamburg hatte:
Mit seinem Wechsel nach Hamburg im Jahr 1876 war er dieser sogleich beigetreten,
und im Jahr 1890 – als diese ihr 200-jähriges Bestehen beging –
war er ihr Jahrverwalter, also insbesondere für die Feierlichkeiten leitend
verantwortlich.
Als jedoch Schubert im Jahr 1901 sein 25-jähriges Jubiläum als Mitglied der
Mathematischen Gesellschaft feierte und seine Ehrenmitgliedschaft zur Abstimmung anstand,
wurde diese mit 12 zu 2 Stimmen abgelehnt; kurz vor seinem Tod trat er sogar aus der
Gesellschaft aus.
Diese Vorgänge um die Mathematische Gesellschaft und auch die um die DMV lassen
sich möglicherweise teilweise durch Schuberts Naturell erklären: Titel wie
„Die Quadratur des Zirkels in berufenen und unberufenen Köpfen“ und
„Die vierte Dimension in mathematischen und spiritistischen Köpfen“
von Artikelreihen, die er für den
Hamburgischen
Correspondenten verfasst hatte, lassen bereits vermuten, dass Schubert nicht
unbedingt bereit war, auf Personen einzugehen, die seiner Denkweise fern standen.
Auch ist es auffällig, dass die Beschreibungen seines Humors bereits durch seine
Schüler variierten: von „köstliche[r] Humor“ zu „Sinn für
Scherz und urwüchsigen Humor“.
Gustav Lony bescheinigte ihm sogar in seiner Darstellung für die
Mathematische Gesellschaft „drastischen Humor“ und bemerkte:
„Gelegentlich konnte er auch ironisch und sarkastisch werden.“
Ab 1905 hatte Schubert mit einer Arteriosklerose zu kämpfen, die Gehprobleme im Gefolge hatte;
hinzu trat noch eine Sehstörung. Er wurde daher 1908 vorzeitig pensioniert.
Am 20. Juli 1911 starb er in Hamburg. Sein Nachlass gilt als verschollen;
allerdings sind in zahlreichen Nachlässen anderer Mathematiker von Hermann Schubert
verfasste Schriftstücke erhalten, etwa in denen von
David Hilbert (1862-1943),
Adolf Hurwitz und Felix Klein.
Während sich die vorstehenden Abschnitte den Stationen des Lebens von Hermann Schubert
widmen, würdigen die nachfolgenden seine Leistungen zu wissenschaftlichen Themen –
sozusagen sein Werk.
Abzählende Geometrie
Schuberts einflussreichste Beiträge zur Mathematik gehören in das Gebiet der
„abzählenden Geometrie“, das heutzutage –
als Rückübersetzung aus dem Englischen –
auch als „enumerative Geometrie“ bezeichnet wird.
Diese behandelt die Aufgabe, die Anzahl der Lösungen für gewisse geometrische Probleme zu
bestimmen – und zwar, ohne dazu die Lösungen allesamt einzeln zu konstruieren.
Mathematische Aussagen, die in diese Richtung zielen, gab es schon vor Schuberts Zeit, etwa den nach
Étienne Bézout
(1730-1783) benannten Satz:
Die Anzahl der Schnittpunkte
zweier ebener algebraischer Kurven vom Grad
r bzw. s ist gleich r·s.
An diesem Satz erkennt man allerdings auch die Probleme, die bei naiver Verwendung von
Begriffen entstehen können – hier des Begriffs „Anzahl“:
Es müssen die Schnittpunkte „richtig“ gezählt werden,
also mit den korrekten Vielfachheiten,
und es dürfen keine Schnittpunkte übersehen werden,
weder im Komplexen noch im projektiv Unendlichen.
Zudem dürfen die beiden Kurven keine Komponenten gemeinsam haben.
Man merkt also, dass die Ideen und Aussagen der abzählenden Geometrie vielleicht einfach
klingen, exakte Formulierungen (und dann auch vollständige Beweise) aber nicht ganz
einfach zu finden sind.
Einen ersten Ansatz hierzu hatte bereits Chasles unternommen,
der 1864 den Begriff der „Charakteristik“ einführte:
Ähnlich wie der Grad einer algebraischen Kurve für den Satz von Bézout,
soll es sich dabei um eine einem geometrischen Objekt zugeordnete Größe handeln,
die für eine ganze Familie solcher Objekte konstant ist und dazu verwendet werden kann,
die Anzahl der Lösungen zu berechnen. Chasles und de Jonquières hatten
für bestimmte reell ein-dimensionale Familien von Flächen im Raume bereits
Charakteristiken μ, ν, ρ definiert, falls jeder Punkt
in genau μ Flächen der Familie liegt,
jede Gerade genau ν Flächen und jede Ebene genau
ρ Flächen berührt.
In seiner als Dissertation angenommenen Schrift behandelte Schubert zwar „nur“
Vereinfachungen und Spezialfälle dieser Untersuchungen,
wie den niederdimensionalen Fall von „Systemen von Kurven“ in der Ebene
oder den Spezialfall von Kegelschnitten.
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern lieferte er allerdings auch Beweise für seine
Behauptungen!
Von den Kegelschnitten, also Kurven zweiten Grades,
verallgemeinerte er seine Untersuchungen während seiner Hildesheimer Zeit
auf die Charakteristiken von Kurven dritten Grades,
was 1874 und 1875 zu zwei kürzeren Artikeln führte (und –
wie bereits erwähnt –
der Verleihung der Goldenen Medaille der Dänischen Akademie).
In diesen entwickelte Schubert, basierend auf Vorüberlegungen von
Jean-Victor Poncelet (1788-1867),
das „Princip der speziellen Lage“:
Lässt man eine Familie von geometrischen Objekten in der richtigen Weise degenerieren,
so bleiben bestimmte relevante Größen erhalten, insbesondere Anzahlen.
Solch eine Thematik war eigentlich für die Clebsch-Schule typisch,
und so kann es nicht verwundern, dass Klein, der sich als der wissenschaftliche Erbe von
Clebsch fühlte, Schubert in den von ihm herausgegebenen
Mathematischen Annalen 1876 immerhin 116 Druckseiten für dessen Artikel
„Beiträge zur abzählenden Geometrie“ zur Verfügung stellte.
Bald danach, in seiner 1879 bei Teubner erschienenen Monographie
„Kalkül der abzählenden Geometrie“, verallgemeinerte Schubert das
„Princip der speziellen Lage“ zum „Princip von der Erhaltung der Anzahl“,
welches sich auch als Name allgemein durchsetzte.
Aufgrund dieses Buches spricht man heute auch vom Schubert-Kalkül.
Dieser hat circa ein Jahrhundert nach Erscheinen des Buches eine überraschende Anwendung
und damit auch großes Interesse in einem zunächst völlig anders erscheinenden
Zusammenhang gefunden:
Die zentrale Frage der abzählenden Geometrie lässt sich verstehen als die
Bestimmung der Anzahl rationaler Kurven mit gewissen Zusatzbedingungen.
Solche Probleme tauchen in der modernen Theoretischen Physik im Rahmen
der Stringtheorie auf, einem Versuch einer alle Naturkräfte
vereinheitlichenden Theorie, die das
Standardmodell der
Elementarteilchenphysik und die Gravitation miteinander verbindet.
Die gesuchten Anzahlen stehen dabei in engem Zusammenhang mit den
Gromov-Witten-Invarianten.
Dies führte dazu, dass in den 1970er Jahren Schuberts Forschungen wieder aufgegriffen wurden
und genau 100 Jahre nach dem ersten Erscheinen ein Reprint des
„Kalküls der abzählenden Geometrie“ gedruckt wurde,
welches um ein Vorwort von
Steven L. Kleiman (*1942) ergänzt
wurde, das den Schubert-Kalkül in seiner Entwicklung würdigt,
sowie um eine Bibliographie der Arbeiten Schuberts von
Werner Burau (1906-1994).
Allerdings waren die Grenzen der Gültigkeit der Aussagen von Schuberts Kalkül
auch nach 1879 keinesfalls scharf umrissen. So gaben
Eduard Study (1862-1930) und
Gustav Kohn (1859-1921)
Gegenbeispiele für die bis dahin übliche Interpretation an.
Als 15. seiner Probleme auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress 1900 in Paris
stellte Hilbert daher die Frage
„Wie kann Schuberts Abzählungskalkül konkretisiert und formal begründet
werden?“.
Schubert bedankte sich bei Hilbert hierfür in einem Brief, dem auch zu entnehmen ist,
dass er sich der fehlenden Grundlagen seines Kalküls völlig bewusst war und schon
seit langem – wenn auch vergeblich – versucht hatte,
andere Mathematiker – namentlich Hurwitz – dazu zu bewegen,
„Untersuchungen über Gültigkeitsbereich und über strengere
Beweisführung“ anzustellen.
Es dauerte jedoch bis zur Dissertation
„De algebraise grondslagen der meetkunde van het aantal“
Bartel Leendert van der
Waerdens (1903-1996), dass sich jemand mit einer konsequent arithmetisch-algebraischen
Grundlegung der abzählenden Geometrie befasste. Insbesondere gelang diesem ab 1929
mit Hilfe von Begriffen wie „Schnittmultiplizität“ eine genaue Fassung des
Konzeptes der Vielfachheit bei geometrischen Objekten.
Diese Grundlagen wurden in den darauffolgenden Jahrzehnten von
Alexander
Grothendieck1)
(1928-2014) und
Pierre Samuel (1921-2009)
weiterentwickelt.
Ebenso gab es Fortschritte bei der exakten Begründung der in der
abzählenden Geometrie verwendeten Beweismethoden aufgrund von Arbeiten
aus algebraischer Geometrie und algebraischer Topologie.
Elementar- und Unterhaltungsmathematik
In seiner Hamburger Zeit publizierte Schubert auch zu Themen,
die seiner Tätigkeit als Lehrer näher standen.
So stammt von ihm der in der Zählung erste Beitrag, über Arithmetik,
in der von Klein initiierten
Encyklopädie
der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen.
Vor allen Dingen aber verfasste Schubert zahlreiche Bücher, etwa über
„Elementare Arithmetik und Algebra“ wie auch
„Niedere Analysis“, die in der Sammlung Göschen erschienen;
er gab sogar selbst eine eigene „Sammlung Schubert“ bei der
Göschen'schen
Verlagshandlung heraus, eine „Sammlung mathematischer Lehrbücher,
die auf wissenschaftlicher Grundlage beruhend, den Bedürfnissen des Praktikers Rechnung
tragen und zugleich durch eine leicht faßliche Darstellung des Stoffs auch für den
Nichtfachmann verständlich sind“.
Aber auch rein unterhaltsame Beiträge zur Mathematik verfasste Schubert, so 1886
„Das Skatspiel im Lichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung“ und
das Buch „Mathematische Mußestunden. Eine Sammlung von Geduldspielen,
Kunststücken und Unterhaltungsaufgaben mathematischer Art“, dessen 1. Auflage 1898
erschien und das noch 1967 in 13. überarbeiteter Auflage gedruckt wurde.
Weiter trug er zur Popularisierung der Mathematik durch die Publikation von Artikeln und ganzen
Artikelreihen in der weit verbreiteten Tageszeitung Hamburgischer Correspondent bei.
Referenzen
[1] | Werner Burau: Der Hamburger Mathematiker Hermann Schubert, Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 9.3 (1966), S. 10-19. | |
[2] | Werner Burau: Schubert, Hermann Cäsar Hannibal, in: Charles Coulston Gillispie (Hrsg.), Dictionary of scientific biography 12, Charles Scribner and Sons, New York, 1975, S. 227-229. | |
[3] | Werner Burau und Bodo Renschuch: Eränzungen zur Biographie von Hermann Schubert, Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 13 (1993), S. 63-65 | |
[4] | Karin Reich: Mathematik und Mathematiker am Akademischen Gymnasium und Johanneum im 18. und 19. Jahrhundert. Ausgewählte Beispiele, Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 28 (2009), S. 49-80. | |
[5] | Renate Tobies: Hermann Schubert, die DMV und Hamburg, in: Benedikt Löwe und Hendrik Niehaus (Hrsg.), Jahrestagung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Freie und Hansestadt Hamburg, 21. bis 25. September 2015, Verein zur Ausrichtung von Tagungen am Fachbereich Mathematik der Universität Hamburg, Hamburg, 2015, S. 51-53. | |
[6] | Peter Ullrich: Hermann Schubert (1848-1911) in Berlin, Hildesheim und Hamburg, Vortrag auf der Gemeinsamen Jahrestagung der Fachgruppe „Geschichte der Mathematik“ der DMV und des Arbeitskreises „Mathematikgeschichte und Unterricht“ der GDM am 26. bis 28. Mai 2022 in Hildesheim. Erscheint in deren Tagungsband |
Bildnachweis
Porträt | aus einem Fotoalbum aus dem Besitz von Rudolf Sturm (1841-1919), von Bärbel Elstrodt abfotografiert und mit deren freundlicher Genehmigung hier wiedergegeben | |
Gruppenbild | Die Gründer der Deutschen Mathematiker-Versammlung, Foto von J. Ortgies jr., 1890 | |
Grabstein | Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Grab_Hermann_Schubert_(Mathematiker)_FriedhofOhlsdorf_(2).jpg Urheber: Vitavia (Benutzername), die Datei ist gemäß (CC BY-SA 4.0) lizenziert. |
1) A. Grothendieck wurde auf den Vornamen Alexander
getauft; für seine in Frankreich verfassten Publikationen verwendete er allerdings die
französische Variante des Vornamens, „Alexandre“.