Mathematiker des Monats September 2016
Immanuel Lazarus Fuchs (1833-1902)
von
Peter Ullrich
Inhalt
Leben
Geboren wurde Immanuel Lazarus1) Fuchs am 5. Mai 1833 in Moschin
bei Posen im Königreich Preußen (heute: Mosina, Woiwodschaft Großpolen, Polen) als Sohn von Raphael
Fuchs, einem Lehrer, und dessen Frau Caecilia. Nach dem Besuch der Grundschule ging er 1846 nach
Posen, wo er sich zunächst in angeleitetem Selbstunterricht die Alten Sprachen aneignete und ab 1848
das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium besuchte, das er 1853 mit dem Zeugnis der Reife verließ.
Das nächste Jahr verbrachte er als Hauslehrer von
Leo Koenigsberger (1837-1921), den er
ebenfalls für die Mathematik begeisterte.
Ab Ostern 1854 studierte Fuchs an der
Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin,
vornehmlich bei
Karl Weierstraß (1815-1897), der ihm die Theorie der analytischen
Funktionen nahebrachte, und bei Ernst Eduard Kummer
(1810-1893), bei dem er am 2. August 1858 mit der Dissertation „De supeficierum lineis curvaturae“
(auf deutsch: „über die Krümmungslinien von Flächen“)
aus dem Bereich der höheren Geometrie promovierte. Im März des nächsten Jahres legte er die Prüfung
für das höhere Lehramt ab. Fuchs, der von Geburt her mosaischen Glaubens war, trat 1860 zum
Protestantismus über.
In den Jahren von 1860 bis 1867 war Fuchs als Lehrer an verschiedenen höheren Schulen in Berlin
tätig, zuletzt an der
Friedrich-Werderschen Gewerbeschule.
Danach wechselte er auf eine Stelle als Dozent an der Artillerie- und Ingenieur-Schule in Berlin.
Gleichzeitig wandte er sich in seinen mathematischen Forschungen dem zentralen Thema seines Lebenswerks zu, der
Theorie der Differentialgleichungen im Komplexen. Mit einer wegweisenden Arbeit aus diesem Bereich habilitierte
er sich im Jahr 1865 an der Universität Berlin, wurde dort umgehend Privatdozent und ein
Jahr später außerordentlicher Professor.
Im Jahr 1869 wurde Fuchs – als Nachfolger seines vormaligen Privatschülers
Koenigsberger – auf eine ordentliche Professur an der Universität Greifswald
berufen. Von dort wechselte er 1874 als Nachfolger von
Alfred Clebsch (1833-1872) auf ein
Ordinariat in Göttingen. Dort sorgte er, mit starker Unterstützung durch Weierstraß, dafür,
dass die drei von
Sofja Kowalewskaja (1850-1891) eingereichten
Schriften für deren Promotion ausreichten und man ihr im Zuge eines Verfahrens „in absentia“
die mündliche Doktorprüfung erließ, die zuvor als unüberwindliches Hindernis erschienen war.
Bereits 1875 verließ Fuchs Göttingen, um in Heidelberg tätig zu werden als ordentlicher
Professor und wiederum Nachfolger von Koenigsberger.
An der Universität Berlin bekundete Kummer 1882 seine Absicht, sich entpflichten zu
lassen. Im Rahmen der sich daran anschließenden Personalmaßnahmen wurde zum einen
Leopold Kronecker (1823-1891) direkter Nachfolger
von Kummer. Zum anderen wurde (neben diesem und dem von Weierstraß) ein drittes
Mathematik-Ordinariat neu geschaffen, auf welches nach intensivem Drängen der Fakultät,
insbesondere von Weierstraß, Fuchs berufen wurde.
Hier wirkte Fuchs für den Rest seines Lebens, war Mitdirektor des Mathematischen
Seminars und seit 1892 Herausgeber des
Journals für die reine und angewandte
Mathematik2). Zu seinen Doktoranden zählen
Lothar Heffter,
Ludwig Schlesinger und
Theodor Vahlen.
Im akademischen Jahr 1899/1900 war Fuchs Rektor der Universität.
Er starb am 26. April 1902; sein Grab befindet sich auf dem
Alten
St.-Matthäus-Friedhof in Berlin-Schöneberg.
Grabstätte von I. L. Fuchs (siehe auch Ort des Monats Oktober 2014)
Werk
In Verallgemeinerung der Arbeit von
Carl Friedrich Gauß (1777-1855) über die
hypergeometrische Reihe studierte Fuchs die Lösungen w = w(z)
von homogenen linearen Differentialgleichungen n-ter Ordnung in der komplexen
Veränderlichen z, also Differentialgleichungen des Typs
w(n)(z) +
p1(z)·w(n-1)(z) + . . . +
pn-1(z)·w'(z) +
pn(z)·w(z) = 0 .
Dabei sind die Funktionen p1, . . . , pn-1,
pn auf einer gemeinsamen offenen Teilmenge D der komplexen
Ebene analytisch in z.
Fuchs gelang es zum Beispiel zu zeigen, dass die Lösungen einer Gleichung dieses
Typs ebenfalls auf D analytisch sind und nur dort Singularitäten besitzen,
wo dies auch für eine der Funktionen p1, . . . , pn-1,
pn zutrifft. Spezialfälle seiner Theorie haben
Beziehungen zur Theorie der Abelschen bzw. der der automorphen Funktionen.
Nach Fuchs werden Differentialgleichungen des obigen Typs als Dfferentialgleichungen
der Fuchs'schen Klasse bezeichnet. Bei einer Fuchs'schen Differentialgleichung
ist speziell n = 2, p1 hat höchstens einen Pol 1. Ordnung und
p2 höchstens einen Pol 2. Ordnung an der betrachteten Stelle.
Weiterhin war Fuchs Namensgeber für die Fuchs'schen Gruppen und die
Picard-Fuchs'sche Differentialgleichung. (über die Benennung der
„Fuchs'schen Funktionen“ gab es um 1881 jedoch einen Disput zwischen
Henri Poincaré (1854-1912) und
Felix Klein (1849-1925).)
Familie
Fuchs war verheiratet mit Marie (1849-1917), geborene Anders. Der Ehe entstammten
4 Söhne und 2 Töchter, unter anderem Clara, die den Mathematiker und Fuchs-Schüler
Ludwig Schlesinger (1864-1933) heiratete, der 1904 bis 1908 die drei Bände der
Gesammelten Werke von Fuchs mit herausgab.
Der andere Herausgeber war der Sohn
Richard Fuchs.
Geboren am 5. Dezember 1873 in Greifswald ähnelte sein Leben bis zu einem gewissen Grad
dem seines Vaters: Nach Studium (1893-1898) und Promotion (1897) an der Universität Berlin
war er ab 1901 Studienrat am
Bismarck-Gymnasium
in Berlin-Wilmersdorf. Im Jahr 1906 erfolgte seine Habilitation und Ernennung zum Privatdozenten an der
Technischen Hochschule Berlin-Charlottenberg.
Wie sein Vater forschte er über lineare Differentialgleichungen
im Komplexen, die er zudem auf Fragen der Aerodynamik anwandte. So war er bereits während
des Ersten Weltkriegs als Wissenschaftler bei der Flugzeugmeisterei in Berlin-Adlershof
tätig, wurde 1922 zum außerordentlichen Professor für Flugtechnik an der Technischen
Hochschule Berlin ernannt und arbeitete von 1924 bis 1936 als freier Mitarbeiter an der
Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Adlershof und danach für die
Deutsche Forschungsanstalt für Luftfahrt in Braunschweig. Er starb am 28. Dezember 1944
in Bad Doberan bei Rostock.
Ehrungen
Lazarus Fuchs war Mitglied der
Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (1874), der
Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (1883), der
Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften (1884), der
Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala (1892), der
Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der
Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften (beides 1898).
Weiterhin war er korrespondierendes Mitglied der
Russischen Akademie der Wissenschaften
in Sankt Petersburg (1895) und Träger des Ritterkreuzes 1. Klasse des
Ordens vom
Zähringer Löwen (1883). Kürzlich wurde der Asteroid (22497) Immanuelfuchs3) nach ihm benannt.
Referenzen
[1] | Immanuel Lazarus Fuchs: Gesammelte mathematische Werke, hrsg. von R. Fuchs und L. Schlesinger, Mayer & Müller, Berlin 3 Bände 1904, 1906, 1908 | |
[2] | Jeremy Gray: Fuchs and the theory of differential equations, Bulletin of the American Mathematical Society 10 (1984), S. 1 - 26 | |
[3] | Meyer Hamburger et al.: Der Mathematiker Lazarus Fuchs. Eine biographische Anthologie, Aus Nachrufen und biographischen Artikeln von Meyer Hamburger, Carl von Voit, Georg Wallenberg u. a. zusammengestellt von Gabriele Dörflinger, Heidelberger Texte zur Mathematikgeschichte, digitale Ausgabe 2012, 51 S. sowie die darin zusammengestellte Literatur |
Bildnachweis
Porträt | Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg gemäß den Bedingungen der Creative Commons-Lizenz CC-BY-SA 3.0 DE (vergleiche die Nutzungsbedingungen). Die Auflösung des Bilds wurde auf 500 x 686 Bildpunkte reduziert. | |
Grabstätte | Wolfgang Volk, Berlin, Gräber von Immanuel Lazarus Fuchs und Leopold Kronecker in Berlin-Schöneberg |
1) Diesen Vornamen hat er offenbar als Rufnamen verwendet.
2) Im Band 157 des Journals für die reine und angewandte
Mathematik findet man vor Seite 61 eine schöne Darstellung der frühen Herausgeber
dieser Zeitschrift mit Porträts von Karl Wilhelm Borchardt,
Leopold Kronecker, Karl weierstraß und Lazarus Fuchs.
3) Diese seltsame Namensgebung hängt damit zusammen, dass Asteroide in der Regel mit den Nachnamen der so Geehrten bezeichnet werden und
der Asteroid (9638) Fuchs nach dem deutschen Arzt und Botaniker Leonhart Fuchs (1501–1566) benannt ist.