Mathematiker des Monats Januar 2016
Sofja Wassiljewna Kowalewskaja (1850-1891)
von
Reinhard Bölling
Am 30. Januar 1884 schreibt die am 15. Januar 1850 in Moskau geborene Sofja Wassiljewna
Kowalewskaja in ihr Tagebuch: „Habe heute die erste Vorlesung gehalten, weiß nicht,
ob es gut oder schlecht war, weiß nur, dass es sehr traurig war, nach Hause zu
kommen und sich so allein auf der weiten Welt zu fühlen.” (übersetzung des russischen
Originaltextes.) War es nicht ein großartiger Erfolg: eine Frau hält eine
mathematische Vorlesung? Sie hatte an der noch jungen Stockholmer Hochschule über
partielle Differentialgleichungen vorgetragen. Auf diesem Gebiet kannte sie sich
bestens aus. Eine ihrer drei Dissertationsschriften enthält einen grundlegenden Satz
über die Existenz analytischer Lösungen, der sich heute in jedem Lehrbuch über
partielle Differentialgleichungen als
Satz von
Cauchy-Kowalewskaja findet.
Im Oktober 1870 war sie zur Fortsetzung ihrer in Heidelberg begonnenen mathematischen
Studien nach Berlin gekommen. Da sie keine Genehmigung zum Besuch der Vorlesungen an
der Berliner Universität erhielt, bot ihr
Weierstraß, der die herausragende
mathematische Begabung der jungen Russin erkannte, kostenlosen Privatunterricht an.
So wurde sie in den folgenden vier Jahren nicht nur seine Schülerin, sondern auch
seine vertraute Freundin. Erst ihr früher Tod setzte dieser Beziehung, die in der
Wissenschaftsgeschichte ihresgleichen sucht, ein Ende. Weierstraß, einer der
bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit, hat Sofja, wie
Mittag-Leffler
1875 berichtet, als „den besten Schüler, den er je gehabt hat”, angesehen. Den Abschluss
ihrer Berliner Studienjahre bildet 1874 die Promotion durch die Göttinger Universität
(in absentia, d. h. ohne mündliche Prüfung). Sie war die erste Frau in der Mathematik,
die auf der Basis einer mathematischen Originalarbeit den Doktorgrad erwirbt
(tatsächlich reicht sie drei Arbeiten ein – über partielle Differentialgleichungen,
über die Saturnringe und über elliptische Integrale).
Zu den wissenschaftlichen Höhepunkten ihres Lebens gehört die Verleihung des
Prix Bordin der
Pariser Akademie der
Wissenschaften im Jahr 1888 für ihren Beitrag zum Rotationsproblem fester Körper.
Euler hatte die entsprechenden
Differentialgleichungen aufgestellt und in einem Spezialfall gelöst. Nachdem
Lagrange einen weiteren Fall erledigen konnte,
gelang Kowalewskaja die Lösung
eines dritten Falles, der insofern abschließenden Charakter trägt, da keine weiteren
Fälle existieren, in denen die Eulerschen Gleichungen vier unabhängige algebraische
Integrale haben. Auf ihre 1884 eingerichtete und zunächst auf fünf Jahre befristete
Professur für höhere Analysis an der Stockholmer Hochschule, die durch die
unermüdlichen Bemühungen Mittag-Lefflers mit Unterstützung von Weierstraß zustande kam,
erfolgte 1889 die Ernennung zum Professor auf Lebenszeit.
Sie war die erste Professorin in der Mathematik, die auch selbst Vorlesungen gehalten hat.
Doch nicht einmal zwei Jahre sollten ihr noch bleiben.
Und noch ein „erstes Mal”: Bereits 1884 wird sie – als erste Frau – Mitherausgeberin
einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift
(Acta mathematica).
Mit dem Prix Bordin ist sie im mathematischen Europa endgültig zur Berühmtheit geworden.
Aber wie nach allen ihren Erfolgen fällt sie in eine depressive Phase,
der Größe des Erfolges entsprechend diesmal nur tiefer.
Manchmal wird der Wunsch in ihr groß, die Mathematik für einen anderen Lebensinhalt
aufzugeben. Schon immer hatte sie sich auch literarischen Arbeiten gewidmet.
Ihr größter schriftstellerischer Erfolg sind die „Kindheitserinnerungen”,
die 1889 in Stockholm erscheinen und danach in mehrere Sprachen übersetzt werden.
1890 schreibt sie: „Ich konnte mich mein ganzes Leben lang nicht entscheiden:
wofür empfinde ich größere Neigung – für die Mathematik oder für die Literatur?
Sobald der Kopf von rein abstrakten Betrachtungen ermüdet ist,
zieht es mich sogleich zu Beobachtungen über das Leben, zu den Erzählungen.
Und umgekehrt, ein anderes Mal fängt plötzlich alles im Leben an,
nichtig und uninteressant zu erscheinen und einzig und allein die ewigen unverbrüchlichen
Gesetze der Wissenschaft ziehen mich an.” (übersetzung vom russischen Originaltext.)
Kowalewskaja stirbt am 10. Februar 1891 in Stockholm völlig unerwartet mit nur 41 Jahren
an den Folgen einer Lungenentzündung.
Referenzen
[1] | Michèle Audin: Remembering Sofya Kovalevskaya. Springer, London, 2011 | |
[2] | Reinhard Bölling (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Karl Weierstraß und Sofja Kowalewskaja, Akademie-Verlag, Berlin, 1993 | |
[3] | Reinhard Bölling: „Sage, was du weißt, tue, was du musst, geschehe, was geschehen soll“, Ausarbeitung zum Kolloquiumsvortrag, der am 19. Oktober 2016 am Institut für Mathematik der Universität Potsdam gehalten wurde | |
[4] | Ann Hibner Koblitz: A convergence of lives. Sofia Kovalevskaia: scientist, writer, revolutionary, Birkhäuser, Boston-Basel-Stuttgart, 1983 | |
[5] | Anna Charlotte Leffler: Sonja Kovalevsky, Reclam, Leipzig, 1894 |
Bildnachweis
Porträt | entnommen aus: [2] |