Mathematischer Ort des Monats Oktober 2023
Tafel für Johann Gottfried Galle und Urbain Jean Joseph Le Verrier in Berlin-Kreuzberg
von Wolfgang Volk
 
Entdeckung des Neptun
Tafel zur Entdeckung des Planeten Neptun
 
Seit dem 15. Oktober 2020 befindet sich auf dem Fromet-und-Moses-Mendelsohn-Platz im Bezirk Kreuzberg eine (weitere) Sehenswürdigkeit mit mathematischen Bezug – eine Tafel, die über die Entdeckung des Planeten Neptun1) im Jahr 1846 informiert. Nur wenige Schritte davon entfernt befindet sich die Stele, die an den Preußischen Normalhöhenpunkt 1879 erinnert2). Die Tafel beschreibt ein denkwürdiges Ereignis, das sich an der Berliner Sternwarte abgespielt hat. Der Authentizität willen, wird nachstehend zunächst der deutschsprachige3) Text dieser Tafel unverändert wiedergegeben:

Die Entdeckung des Planeten Neptun in der ehemaligen Kreuzberger Sternwarte

Von 1835 bis 1913 stand hier die nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel erbaute Neue Berliner Sternwarte. Sie zog 1835 von ihrem Standort in der Dorotheenstraße (Mitte) auf das Areal zwischen Lindenstraße und Friedrichstraße. Hier wurden einige maßgebende Entdeckungen gemacht. Vor allem erlangte die Sternwarte durch die Entdeckung des Planeten Neptun internationale Berühmtheit.

1846 bat der französische Astronom Urbain Le Verrier seine Berliner Kolleg*innen um Mithilfe bei der Beobachtung eines bislang unbekannten Himmelskörpers, dessen Position er im Sonnensystem aufgrund von Störungen in der Laufbahn des benachbarten Planeten Uranus errechnet hatte. Johann Gottfried Galle und sein Assistent Heinrich Louis d’Arrest konnten in der Nacht vom 23. September 1846 tatsächlich den Himmelskörper an der errechneten Stelle entdecken und diese Beobachtung mittels der Berliner Akademischen Sternkarte abgleichen. Neptun war der erste Planet, der aufgrund mathematischer Berechnungen entdeckt wurde.

Durch das rasante Wachstum Berlins war die Sternwarte gegen Ende des 19. Jahrhunderts völlig umbaut. Die Folgen der Urbanisierung und Industrialisierung behinderten die wissenschaftliche Himmelsbeobachtung. 1913/14 erfolgte daher der Umzug der Sternwarte nach Potsdam Babelsberg. Die Gebäude auf dem bisherigen Areal wurden abgebrochen, an ihrer Stelle entstand unter anderem 1922 die Blumengroßmarkthalle.

Weitere Gestaltungselemente der Tafel sind neben dem Text die Wiedergabe einer historischen Ansicht der Sternwarte, die Ernst Grünewald (1801-1848) nach einer Zeichnung von Wilhelm Loeillot (1804/5-1891) gestaltete, und ein Grundriss der Sternwarte. Für die Gestaltung der Tafel zeichnet Petra Müller (museumsfreunde) verantwortlich.
Da es im Tafeltext bezüglich der Bezeichnungen etwas durcheinander geht, soll zunächst die Geschichte der Berliner Sternwarte nachgezeichnet werden: Im Zusammenhang mit der Gründung der Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften (siehe unter anderem [3]) im Jahr 1700 wurde auch eine Sternwarte für Berlin ins Leben gerufen. Beide Institutionen bezogen 1711 ihre Räumlichkeiten in einem in der Zwischenzeit erweiterterten Gebäudekomplex in der Dorotheenstadt, wobei das Observatorium turmartig realisiert wurde. 1768 erhielt die Sternwarte einen Mauerquadranten als erstes bedeutendes Beobachtungsgerät. Erst mit der Berufung von Johann Franz Encke4) (1791-1865) als Nachfolger von Johann Elert Bode (1747-1826) im Jahr 1822 und mit der Unterstützung sowie dem Einfluss von Alexander von Humboldt (1769-1859) konnte beim preußischen König Friedrich Wilhelm III. die Bewilligung des Erwerbs leistungsfähiger Instrumente – unter anderem eines Linsenteleskops mit einer Öffnung von 24,4cm (9 Zoll) und einer Brennweite von 4,33m aus der Werkstatt Joseph von Fraunhofer (1787-1826) – sowie der Bau einer neuen Sternwarte außerhalb der städtischen Bebauung südlich der Friedrichstadt erreicht werden. So kam es zum Bau der „Neuen Berliner Sternwarte“ auf einem Arreal, das heute im Ortsteil Berlin-Kreuzberg gelegen ist. Da im Zuge der städtebaulichen Entwicklung die „Neue Berliner Sternwarte“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts völlig umbaut war und demzufolge durch die Licht- und Luftverschmutzung eine angemessene astronomische Beobachtungstätigkeit nicht mehr möglich war, zog unter dem Direktorat von Hermann von Struve5) (1854-1920) die „Berliner Sternwarte“ erneut um, und zwar nach Babelsberg6) in die unmittelbare Nähe des dortigen Schlossparks. Dieses ehemalige Sternwartengebäude beheimatet heute das Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP). Das Gebäude der „neuen Berliner Sternwarte“ wurde zeitnah – nachdem der Preußischen Normalhöhenpunkt 1879 auf den Normalhöhenpunkt von 1912 östlich von Berlin bei Hoppegarten sozusagen ersetzt wurde – abgerissen. Der ursprüngliche Grundriss der „Neuen Berliner Sternwarte“ ist – soweit nicht bereits wieder überbaut – in der Gestaltung der Pflasterung deutlich erkennbar. Was bleibt, ist aber die Erkenntnis, dass es eine „Kreuzberger Sternwarte“, so wie dies in der Überschrift auf der Tafel identitätsstiftend suggeriert wird, so nie gegeben hat: der Stadtbezirk Berlin-Kreuzberg entstand erst am 7. April des Jahres 1920 bei der Umsetzung des Groß-Berlin-Gesetzes, wobei die Namensgebung erst im September des darauffolgenden Jahres endgültig erfolgte.
Sowohl der Tafeltext wie auch die lokale Berichterstattung [1], [2], [5] und [8] fokussieren auf den in Berlin erbrachten Beitrag zur Entdeckung des Planeten Neptun; es sollte aber nicht vergessen werden, dass die eigentliche mathematische Leistung von Urbain Jean Joseph Le Verrier (1811-1877) erbracht wurde, der im Tafeltext eher beiläufig erwähnt wird. Zugegeben, den Berechnungen von U. J. J. Le Verrier wurde von seinen Fachkollegen in Frankreich genauso wenig Vertrauen entgegen gebracht wie etwa zeitgleich John Couch Adams, der sich der gleichen Fragestellung widmete, von seinen englischen Landsleuten. Allerdings sollen sich verschiedene Versionen der Ergebnisse von J. C. Adams signifikant voneinander unterschieden haben und später angeblich nicht mehr auffindbar gewesen sein [3].
Während die Planeten Merkur, Venus, Erde, Mars Jupiter und Saturn mit bloßem Auge sichtbar sind und somit bereits im Altertum bekannt waren, wurde der Planet Uranus erst 1781 vom deutsch-englischen Astronomen Friedrich Wilhelm (William) Herschel (1738-1822) bei seiner Durchmusterung des Fixsternhimmels entdeckt. Bei der Beobachtung des Planeten Uranus stellte man fest, dass dieser sich zunächst schneller auf seiner Bahn bewegte, als dies durch das Newton'sche Gravitationsgesetz zu erwarten wäre – ein Effekt, der sich ab Mitte der 1820er Jahre ins Gegenteil umkehrte. Daraus mutmaßten U. Le Verrier und J. C. Adams, dass ein weiterer Himmelskörper/Planet jenseits der Uranus-Bahn die Störungen verursacht. Dabei hatte U. Le Verrier anhand der empirischen Systematik der Titus-Bode'schen Reihe – benannt nach Johann Daniel Titius, Professor für niedere Mathematik an der Universität Wittenberg (vergleiche [7]) und Johann Elert Bode (siehe oben) – vermutet, dass dieser Planet in einer Entfernung von etwa 40 astronomischen Einheiten7) um die Sonne kreist [4]. Man muss im Nachhinein in zweierlei Hinsicht schon von Glück sprechen. Einerseits fügt sich die Bahn des Planeten Neptun nicht in die Systematik der Titus-Bode'schen Reihe ein, sondern kreist auf einer nahezu kreisrunden Bahn mit einem Radius von ziemlich genau 30 astronomischen Einheiten um die Sonne und erscheint damit um etwa das 1,8-fache heller. Andererseits besitzen die Planeten Uranus und Neptun Umlaufzeiten von etwa 84 und 165 Erdenjahren, was bedeutet, dass Uranus nur etwa alle 170 Jahre den Planeten Neptun überholt und damit die Geschwindigkeitsunterschiede in dem Maße beobachtbar sind.
Hinzu kam noch der glückliche Umstand, dass den berliner Astronomen Johann Gottfried Galle und seinem Mitarbeiter Heinrich louis d'Arrest eine bislang noch unveröffentlichte Sternkarte von Carl Bremiker vorlag, die dieser im Auftrag der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin erstellt hat und gerade jenen Teil des Sternenhimmels umfasste, in dem U. Le Verrier den fraglichen Planeten vermutete.
Sternkarte (Ausschnitt)
Ausschnitt der Sternkarte mit den Eintragungen zur Entdeckung des Planeten Neptun
 
In den Jahren 1946 bis 1951 wurden von der französischen Nationalbank (Banque de France) 50-Francs-Banknoten mit einem Porträt von Urbain Jean Joseph Le Verrier in Umlauf gebracht. Neben seinem Antlitz sind auch die Hände zu sehen, in seiner Rechten hält er einen Stechzirkel, ein Gerät zum Übertragen von Längen. Der Familienname ist am linken Rand zu lesen, wobei die Druckbuchstaben untereinander stehen.
Banknote
Französische Banknote mit dem Porträt von Urbain Jean Joseph Le Verrier
 
Die Darstellung auf der Rückseite der Banknote mutet wie eine altertümliche Sternkarte an, in der die Sternbilder figürlich wiedergegeben sind. Tatsächlich erkennt man im oberen linken Quadranten den Ziegenfisch aus der mesopotamischen Mythologie, in dessen Gestalt oft das Sternbild Steinbock wiedergegeben wird. Auf der oberen rechten Seite ist ein (Pfeil-)Bogen teilweise zu erkennen, den man dem Sternbild Schütze zuordnen kann. Die grafische Darstellung dominiert eine männliche Figur mit einem Dreizack, was die Interpretation als römischen Meeresgott Neptun nahelegt (zumal rechts auch die Jahreszahl 1846 und dessen Name in französischer Schreibweise zu lesen sind). Ob auch eine Personalunion von Neptun mit dem Sternbild des Wassermanns (französisch: Verseau) beim Entwurf ins Auge gefasst wurde, lässt sich wohl nicht mehr klären. Festzuhalten ist jedoch, dass der Planet Neptun im September 1846 tatsächlich im Grenzereich zwischen den benachbarten Sternbildern Steinbock und Wassermann entdeckt wurde.
Durch die grafische Darstellung verlaufen zwei zarte rote Linien, die man – zumindest was deren Schnittpunkt angeht – als Himmelsäquator und Sonnenbahn (Ekliptik) interpretieren könnte. Allerdings sind deren Verläufe in Bezug auf die Sternbilder Steinbock und Schütze nur sehr bedingt korrekt.
Banknote
Rückseite der französischen Banknote mit einer Darstellung der römischen Gottheit Neptun
 

Referenzen

[1]   Thomas Frey: Erster Blick auf den Neptun: Eine vergessene Sternstunde, Berliner Woche, Friedrichshain-Kreuzberg, 2. Dezember 2017
[2]   Gedenktafeln in Berlin8): Die Entdeckung des Planeten Neptun in der ehemaligen Kreuzberger Sternwarte
[3]   Martin Grötschel: Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) und die Mathematik, Mathematischer Ort des Monats Oktober 2015
[4]   Hans-Ulrich Keller (Hrsg.): Der geniale Himmelsmechaniker – U. J. J. Leverrier, Kosmos Himmelsjahr 2011, Frankh-Kosmos Verlag, Stuttgart, 2010, S. 74-79
[5]   Stefan Schaaf: Der Himmel über Berlin – Geschichte und Astronomie: Wie Johann Gottfried Galle auf dem Gelände des taz-Neubaus den Planeten Neptun entdeckte., taz, 30.9.2018
[6]   Wolfgang Volk: Banknote mit dem Porträt von Urbain Jean Joseph Le Verrier, Virtuelle Ausstellung Zeugnisse zu Mathematikern
[7]   Wolfgang Volk: Tafeln für Giordano Bruno, Joachim von Lauchen, Kaspar Peuker und Johann Daniel Titius in der Lutherstadt Wittenberg, Mathematischer Ort des Monats Oktober 2020
[8]   Werner von Westhafen: Die Entdeckung des Neptun, Kreuzberger Chronik, Ausgabe 101, Oktober 2008
[9]   Wikipedia: Berliner Sternwarte
[10]   Hans Zekl: Die unerzählte Geschichte der Neptun-Entdeckung, astronews.com, 23. Mai 2003
 

Bildnachweis

Tafel   Wolfgang Volk, Berlin, März 2022
Ausschnitt der Sternkarte   Quelle: https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjKxA2WnZ2VAwOvQGnSVQ8rmMe6mbrBk2oXC5G-b3MJ25fVQ8LfyXcMI-tVjdQPz2ynOfEWzmucY--c4o6B18d9VDDkTCt1TD6hclbz0jH4ZyLUlZnGNzTlnrmci25YzWCzHlXzjD5k_5p0LRbHvY01K4xFhUZaOxtRi4Y9Ld6SFFV5XVDKUyY2jCCupzE/s1040/finding%20neptune.png (siehe auch Pat's Blog zum 18. September)
Banknote   Scans der Banknote, von [6] übernommen
 

1) Neptun ist (wieder) der äußerste der bekannten 8 Planeten. Sein Umlauf um die Sonne dauert etwa 165 (Erden-)Jahre. Zwar wurde im Jahr 1930 ein weiter Planet – den man Pluto taufte – (Umlaufzeit etwa 248 Jahre) entdeckt; diesem wurde aber im Jahr 2006 durch die Internationale Astronomische Union (IAU) aufgrund neuerer Erkenntnisse – allerdings in einer Abstimmung – der Planetenstatus wieder aberkannt.
2) Dieser mathematische Ort besitzt keinen direkten Bezug zur Funktion der Sternwarte, sondern markiert einen vermessungstechnischen (geodätischen) Bezugspunkt.
3) Die Tafel zeigt in der rechten Spalte auch eine Übersetzung ins Englische.
4) Die Grabstätte von Johann Franz Encke befindet sich auf dem Friedhof II der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde vor dem Halleschen Tor.
5) Die Grabstätte von Hermann Struve befindet sich auf dem Friedhof von Klein-Glienicke, der zum Stadtgebiet Potsdam gehört.
6) Babelsberg gehört heutzutage zum Stadtgebiet Potsdams.
7) Als astronomische Einheit (AE) bezeichnet man die mittlere Entfernung der Erde von der Sonne (etwa 150 millionen Kilometer); damit lassen sich Entfernungen im Sonnensystem mit signifikant kleineren Zahlen ausdrücken.
8) Das Portal Gedenktafeln in Berlin stellt Informationen zu über 3300 Gedenktafeln und -zeichen in Berlin zur Einsicht bereit. Grundlage für die Zusammenstellung ist das Buch von Holger Hübner Das Gedächtnis der Stadt – Gedenktafeln in Berlin, das 1997 im Argon-Verlag in Berlin erschien.