Mathematiker des Monats Oktober 2016
Ferdinand Gotthold Max Eisenstein (1823-1852)
ergänzte Fassung anlässlich seines 170.Todestags am 11. Oktober 2022
von
Karin Reich
Es war Carl Friedrich Gauß,
der in einem Brief vom 14. April 1846 an
Alexander von Humboldt
Eisenstein wie folgt beurteilte: „[…] gleichwohl will ich nicht unterlassen, es auszusprechen,
daß ich seine Begabung wie eine solche betrachte, welche die Natur in jedem Jahrhundert nur
wenigen ertheilt.”
Ferdinand Gotthold Max Eisenstein wurde am 16. April 1823 in Berlin geboren. Sein Vater
Johann Constantin Eisenstein (1791-1875) war Kaufmann und Fabrikant, seine Mutter, Helene Pollack
(1799-1876) war die Tochter eines Kaufmanns. Gotthold Eisenstein besuchte das
Friedrich-Wilhelms-Gymnasium
und ab 1843 das Friedrich-Werdersche Gymnasium in Berlin.
Es war der Mathematiker
Karl Heinrich Schellbach (1805-1892),
der als Lehrer an beiden Gymnasien Eisenstein in besonderem Maße förderte. Ab 1840 besuchte Eisenstein auch Vorlesungen bei
Peter Gustav Lejeune Dirichlet (1805-1859),
der seit 1839 Professor an der
Universität Berlin war.
Eisensteins Vater war 1840 nach England übergesiedelt, wo er bessere berufliche Chancen erhoffte.
Während der Jahre 1842 und 1843 unternahm Eisenstein zusammen mit seiner Mutter eine Reise nach
Großbritannien. Wieder zurück in Berlin legte Eisenstein am 22. September 1843 sein externes Abitur am
Friedrich-Wilhelms-Gymnasium ab und immatrikulierte sich am 21. Oktober 1843 an der Universität in Berlin.
Im Dezember 1843 reichte Eisenstein seine erste Arbeit mit dem Titel „Théorèmes sur les formes cubiques
et solution d’une équation du quatrième degré à quatre indéterminées” bei
August Leopold Crelle (1780-1855) ein, dem Herausgeber des
Journals
für die reine und angewandte Mathematik.
In den 1844 erschienenen Bänden 27 und 28 wurden insgesamt 26 Beiträge von Eisenstein veröffentlicht,
welch ein Einstieg in die Fachwelt der Mathematik! Eisensteins Arbeitsgebiet war (und blieb) die Zahlentheorie.
Zahlreiche Beiträge waren dem Reziprozitätsgesetz gewidmet und zwar nicht nur zum quadratischen,
für das Eisenstein erstmals einen geometrischen Beweis lieferte, sondern auch zum kubischen und zum
biquadratischen.
Am 9. März 1844 lud Alexander von Humboldt (1769-1859) Eisenstein zu einem Besuch ein,
Humboldt gehörte in der Folgezeit zu den wichtigsten Unterstützern und Korrespondenten von Eisenstein.
Es war der Berliner Astronom
Franz Encke (1791-1865),
der Gauß in einem Brief vom 10. Juni 1844 Gauß auf Eisenstein aufmerksam machte.
Encke kannte Eisenstein sehr gut, gingen doch seine Söhne wie auch Eisenstein
in dasselbe Gymnasium. Noch im Juni 1844 reiste Eisenstein nach Göttingen, wo er 14 Tage blieb.
In dieser Zeit stattete er Gauß dreimal einen persönlichen Besuch ab. Am 7. Juli 1844 ließ Gauß seinen
Freund
Heinrich Christian Schumacher
wissen (Bd.4, S.265): „Ich habe dieser Tage Gelegenheit gehabt,
einen jungen Mathematiker, der mit einer Empfehlung von Humboldt hieher kam, persönlich kennen zu lernen,
der ein höchst ausgezeichnetes Talent besitzt. Sein Name ist Eisenstein, und er scheint aus jüdischem
Stamme zu sein.” Am 15. Februar 1845 wurde Eisenstein mit der Ehrendoktorwürde der
Universität Breslau
ausgezeichnet, es war Ernst Eduard Kummer (1810-1893),
auf den dieser Vorschlag zurückging.
Am 15. Mai 1847 konnte sich Eisenstein an der Universität Berlin habilitieren, seine Habilitationsvorlesung
war den Fundamentaleigenschaften der ganzen rationalen Funktionen gewidmet.
Im Sommersemester 1847 hielt er seine ersten Vorlesungen; in seiner Vorlesung über
elliptische Funktionen war
Bernhard Riemann (1826-1866) einer der insgesamt sechs Zuhörer.
Fortan wirkte Eisenstein als Privatdozent, das heißt er hielt regelmäßig Vorlesungen.
Im Jahre 1847 erschienen 12 Arbeiten Eisensteins, die dieser im Journal für die reine und angewandte
Mathematik veröffentlicht hatte, im Rahmen „Mathematischer Abhandlungen”.
Gauß steuerte ein Vorwort bei, in dem er festhielt: „Die vorliegenden Aufsätze enthalten so viel
treffliches und gediegenes, daß durch dieselben dem Verfasser ein ehrenvoller Platz neben seinen
Vorgängern gesichert wird, an deren Arbeiten jene sich würdig anschließen.”
Als Vorgänger nannte Gauß nur zwei Namen,
Leonhard Euler (1707-1783) und
Joseph-Louis Lagrange (1736-1813).
Obwohl selbst kein Revolutionär, befand sich Eisenstein im Revolutionsjahr 1848 zum falschen Zeitpunkt
am falschen Platz. Er wurde festgenommen und musste einen Tag in der Zitadelle in Spandau verbringen,
bevor er wieder freigelassen wurde.
Im Jahre 1851 wurde Eisenstein zum korrespondierenden Mitglied der
Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen gewählt, der Vorschlag stammte von Gauß.
Im Jahre 1852 wurde Eisenstein Ordentliches Mitglied der Berliner Akademie.
Eisenstein richtete an die Königliche Societät der Wissenschaften zu Göttingen
nachstehendes Dankschreiben.
Der Brief ist in
Deutscher Schrift verfasst,
sein Text lautet wie folgt:
Hochgeehrtester Herr!
Ew. Hochwohlgeboren ehrenvolles Schreiben vom 30. November, in welchem
Sie hochgeehrtester Herr mir meine Ernennung zum Corenspondenten
für die mathematische Klasse der Königlichen Societät der
Wissenschaften anzuzeigen die Güte haben, hat mich, wie Sie
wohl denken können, mit um so größerer Freude und
Ueberraschung erfüllt, als ich zuvor nicht die mindeste Ahnung
hatte, daß daher für mich so glückliche Ereigniß eintreten
würde. Daß mir, der ich noch an der Schwelle der wissen-
schaftlichen Lebens stehe, gerade von Goettingen die erste
derartige ehrende Aufmunterung zu Theil wird, ist mir eine
ganz besondere genugtuung, da meine Blicke und Gedanken
stets nach Ihrer ruhmreichen Stadt gerichtet waren. In Ihrer
Mitte lebt der Mann, der mir ein Vorbild bei meinen
wissenschaftlichen Bestrebungen ist und bleiben wird, dessen
unsterbliche Werke mich auf meinem Wege angespornt und
begeistert haben. Wie sollte es mir nicht da höchste Befrie-
digung gewähren, Ihnen näher zu treten, wenn ich eines
solchen Glückes für würdig befunden wurde, das zu wünschen
ich nicht gewagt hätte.
Ew. Hochwohlgeboren ehrenvolles Schreiben vom 30. November, in welchem
Sie hochgeehrtester Herr mir meine Ernennung zum Corenspondenten
für die mathematische Klasse der Königlichen Societät der
Wissenschaften anzuzeigen die Güte haben, hat mich, wie Sie
wohl denken können, mit um so größerer Freude und
Ueberraschung erfüllt, als ich zuvor nicht die mindeste Ahnung
hatte, daß daher für mich so glückliche Ereigniß eintreten
würde. Daß mir, der ich noch an der Schwelle der wissen-
schaftlichen Lebens stehe, gerade von Goettingen die erste
derartige ehrende Aufmunterung zu Theil wird, ist mir eine
ganz besondere genugtuung, da meine Blicke und Gedanken
stets nach Ihrer ruhmreichen Stadt gerichtet waren. In Ihrer
Mitte lebt der Mann, der mir ein Vorbild bei meinen
wissenschaftlichen Bestrebungen ist und bleiben wird, dessen
unsterbliche Werke mich auf meinem Wege angespornt und
begeistert haben. Wie sollte es mir nicht da höchste Befrie-
digung gewähren, Ihnen näher zu treten, wenn ich eines
solchen Glückes für würdig befunden wurde, das zu wünschen
ich nicht gewagt hätte.
Darf ich Sie ergebenst ersuchen,
hochgeehrtester Herr, der Königlichen
Societät der Wissenschaften
meinen innigsten und tief gefühltesten Dank für diese so ehrenvolle Ernennung auszusprechen.
Mögen Sie die Versicherung hinzufügen, daß ich ganz den Werth einer so hohen Gunst zu
schätzen weiß, welche, so viel in meinen Kräften steht, zu verdienen, das Ziel meiner mit
um so größerem Eifer fortgesetzten wissenschaftlichen Thätigkeit bilden wird.
meinen innigsten und tief gefühltesten Dank für diese so ehrenvolle Ernennung auszusprechen.
Mögen Sie die Versicherung hinzufügen, daß ich ganz den Werth einer so hohen Gunst zu
schätzen weiß, welche, so viel in meinen Kräften steht, zu verdienen, das Ziel meiner mit
um so größerem Eifer fortgesetzten wissenschaftlichen Thätigkeit bilden wird.
Genehmigen Sie
Hochgeehrtester Herr die Bezeugungen der ausgezeichnetesten
Hochachtung,
mit denen ich zu zeichnen mir erlaube
mit denen ich zu zeichnen mir erlaube
Ew. Hochwohlgeboren
Berlin 12 December
1851
1851
ganz ergebenster
G. Eisenstein
G. Eisenstein
Eisenstein war Zeit seines Lebens von schwacher Gesundheit; in seinen letzten Lebensjahren litt er an der Schwindsucht.
Nach einem Blutsturz im Juli 1852 starb Eisenstein am 11. Oktober 1852.
Er wurde auf dem Friedhof am Blücherplatz beigesetzt; A. von Humboldt, obwohl schon 83 Jahre alt,
war unter den Trauergästen. Er war es, der nun auch für die finanzielle Unterstützung der inzwischen
verarmten Eltern Eisensteins sorgte.
Das besondere Exemplar von Gauß’ Disquisitiones arithmeticae.
Im Jahre 1842, vor der Reise nach Großbritannien, erwarb Eisenstein 1842 ein Exemplar von Gauß’
Disquisitiones arithmeticae,
und zwar in französischen Übersetzung: „Recherches arithmétiques”
(Paris 1807). Eisenstein ließ sein Exemplar mit Blättern durchschießen, auf die er Notizen sammelte,
die höchst interessante mathematische Inhalte umfassen.
Der Band befindet sich jetzt in den Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Gießen unter der
Signatur Rara 1415. Die Bibliothek der Mathematischen Institute der Universität Hamburg verfügt
über eine Kopie dieses Bandes, Sign. E 1807/1, ebenso wie die Fachbibliothek Mathematik und
Informatik in Gießen.
Der Text des Titelblatts lässt sich wie folgt ins Deutsche übersetzen:
ZAHLENTHEORETISCHE UNTERSUCHUNGEN
Von Herrn Ch[arles] Fr[édéric] GAUSS (aus Braunschweig)
Übersetzt durch A[ntoine] C[harles] M[arcelin] POULLET DELISLE
Mathematiklehrer am Lyzeum von Orléans
In PARIS,
Bei COURCIER, Buchdrucker und -händler für
Mathematik, Quai des Augustins 57
1807
Von Herrn Ch[arles] Fr[édéric] GAUSS (aus Braunschweig)
Übersetzt durch A[ntoine] C[harles] M[arcelin] POULLET DELISLE
Mathematiklehrer am Lyzeum von Orléans
In PARIS,
Bei COURCIER, Buchdrucker und -händler für
Mathematik, Quai des Augustins 57
1807
Die Kommentare auf der zweiten Seite lauten im Original:
Gotthold Eisenstein.
gekauft von Dr. Michaelis 1842 für 2 R[eichs]t[aler] 13½ S[ilber]gr[oschen]
eingebunden im Sept. 1843 für 25½ S[ilber]gr[oschen]
G Eisenstein
PAUCA sed MATURA !
Procreare jucundum, sed parturire molestum!1)
Gauss, grand géomètre, que la posterité placera à côté de Fermat
non seulement pour ses admirables découvertes dans la théorie des
nombres, mais aussi pour le peu d’empressement qu'il met à
faire paraître ses travaux.
gekauft von Dr. Michaelis 1842 für 2 R[eichs]t[aler] 13½ S[ilber]gr[oschen]
eingebunden im Sept. 1843 für 25½ S[ilber]gr[oschen]
G Eisenstein
PAUCA sed MATURA !
Procreare jucundum, sed parturire molestum!1)
Gauss, grand géomètre, que la posterité placera à côté de Fermat
non seulement pour ses admirables découvertes dans la théorie des
nombres, mais aussi pour le peu d’empressement qu'il met à
faire paraître ses travaux.
Die lateinischen und französischen Textpassagen lassen sich wie folgt ins Deutsche
übersetzen:
WENIGES, aber REIFES !
Zeugen ist angenehm, aber Gebären ist beschwerlich!
Der große Geometer Gauß, den die Nachwelt neben Fermat nicht nur
wegen seiner bewundernswerten Entdeckungen in der Zahlentheorie
setzen wird, sondern auch wegen der wenigen Umschweife, die er beim
Erscheinen seiner Arbeiten machte.
Zeugen ist angenehm, aber Gebären ist beschwerlich!
Der große Geometer Gauß, den die Nachwelt neben Fermat nicht nur
wegen seiner bewundernswerten Entdeckungen in der Zahlentheorie
setzen wird, sondern auch wegen der wenigen Umschweife, die er beim
Erscheinen seiner Arbeiten machte.
Referenzen
[1] | Kurt-Reinhard Biermann: Die Briefe A. v. Humboldts an F. G. M. Eisenstein, in: Alexander von Humboldt, Gedenkschrift, Berlin, 1959, S. 117 - 159 | |
[2] | Gotthold Eisenstein: Mathematische Abhandlungen besonders aus dem Gebiete der höhern Arithmetik und der elliptischen Functionen, mit einer Vorrede von Gauß, G. Reimer, Berlin, 1847 | |
[3] | Gotthold Eisenstein: Mathematische Werke, Chelsea Publ., New York 1975 (2. Aufl. 1989, ISBN: 0-8284-1280-4) | |
[4] | Franz Lemmermeyer: Reciprocity laws – from Euler to Eisenstein, Springer, Berlin, 2000 | |
[5] | Peter Ullrich: Gotthold Eisensteins Exemplar der Gaußschen „Disquisitiones Arithmeticae”, erneut betrachtet, in: G. Biegel, G. Oestmann, K. Reich (Hrsg.), Neue Welten. Wilhelm Olbers und die Naturwissenschaften um 1800, Braunschweigisches Landesmuseum, Braunschweig, 2001 (= Disquisitiones Historiae Scientiarum; 1, ISBN: 3-927939-60-9), S. 202 - 221 | |
[6] | Peter Ullrich: Über das Exemplar der „Disquisitiones Arithmeticae” aus dem Besitz von Gotthold Eisenstein, Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft Hamburg 21/1, 2002, S. 35 -58 |
Bildnachweis
Porträt | Lizensiert unter Public domain gemäß Wikimedia Commons, wahrheitsgetreue fotografische Reproduktion eines zweidimensionalen, public domain Kunstwerks | |
Dankschreiben | Mit freundlicher Genehmigung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (Signatur: 4°Cod. Ms. hist. lit. 116, III, Nr. 58). | |
Titelblatt und Folgeseite |
Mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Gießen. Das Buch mit diesen Seiten besitzt die Signatur Rara 1415. |
1) Quelle für „Procreare iucundum, sed parturire molestum”:
Carl Friedrich Gauß schrieb am 20. Juni 1836 an Heinrich Christian Schumacher:
„(...) aber bemerken Sie zugleich, dass ich nicht ohne Ursache pauca sed matura zu meinem Wahlspruch für alles zu veröffentlichende gemacht habe. Die allgemeinen Apperçus sind die Geburten Einer Stunde, aber um daraus etwas gereiftes zu machen, ist oft lange, oft jahrelange grosse Detailarbeit nöthig, von der man voraussieht, dass man sie gewiss durchführen kann, wenn man sich dazu gibt, obwohl auch dann immer noch manche ähnliche Geburten zweiten und dritten Ranges, die schon auf Ordre kommen müssen, nöthig sind. Procreare iucundum, at parturire molestum.”
H. C. Schumacher antwortete am 24. Juni 1836:
„Ihren Satz Procreare iucundum at parturire molestum, meine ich, könnte ich wohl gegen Sie anwenden, indem ich Ihnen das procreare reservirte, und andern das parturire überliesse.”
Bemerkung:
Der Satz “Procreare iucundum, sed parturire molestum” stammt, wie auch „Pauca sed matura”, von Gauß.
Carl Friedrich Gauß schrieb am 20. Juni 1836 an Heinrich Christian Schumacher:
„(...) aber bemerken Sie zugleich, dass ich nicht ohne Ursache pauca sed matura zu meinem Wahlspruch für alles zu veröffentlichende gemacht habe. Die allgemeinen Apperçus sind die Geburten Einer Stunde, aber um daraus etwas gereiftes zu machen, ist oft lange, oft jahrelange grosse Detailarbeit nöthig, von der man voraussieht, dass man sie gewiss durchführen kann, wenn man sich dazu gibt, obwohl auch dann immer noch manche ähnliche Geburten zweiten und dritten Ranges, die schon auf Ordre kommen müssen, nöthig sind. Procreare iucundum, at parturire molestum.”
H. C. Schumacher antwortete am 24. Juni 1836:
„Ihren Satz Procreare iucundum at parturire molestum, meine ich, könnte ich wohl gegen Sie anwenden, indem ich Ihnen das procreare reservirte, und andern das parturire überliesse.”
Bemerkung:
Der Satz “Procreare iucundum, sed parturire molestum” stammt, wie auch „Pauca sed matura”, von Gauß.