Beitrag vom November 2023
Das Fachgebiet Geometrie an der Technischen Universität Berlin
von Wolfgang Kühnel
 
Zu Beginn lohnt ein Blick zurück in die ältere Zeit. Die Frage, wer eigentlich als „Urvater“ der Geometrie oder Differentialgeometrie an der Technischen Universität Berlin (TU) anzusehen ist, ist nicht leicht zu beantworten.
Gelegentlich wird Georg Hamel (1877-1954) genannt, der ab 1919 an der damaligen (bis 1918 Königlich) Technischen Hochschule zu Berlin eine Professur für Mathematik und Mechanik innehatte. Er hatte bei David Hilbert über „Geometrien, in denen die Geraden die Kürzesten sind“ promoviert, also stand er der Geometrie doch nahe, wenngleich sein Arbeitsgebiet immer als Mechanik und Grundlagen der Mathematik bezeichnet wird, zum Beispiel ist die Hamel-Basis in der linearen Algebra nach ihm benannt. Sein als Band 57 der „Grundlehren“ im Springer-Verlag erschienenes Buch über „Theoretische Mechanik“ wurde zu einem Standardwerk. Mit Kriegsende 1945 wurde er emeritiert, seine Hochschule wurde erst einmal geschlossen. 1950 wurde er Ehrenmitglied der Berliner Mathematischen Gesellschaft (BMG).
Noch 1951 erschien sein Aufsatz „Was ist Geometrie? Geometrie und Anschauung“ in den Mathematischen Nachrichten, wo er einen eigenen philosophischen Standpunkt zur Geometrie mit „Geometrie als Idealwissenschaft“ vertritt.
Ebenso könnte man seinen Kollegen Rudolf Rothe (1873-1942) nennen, der 1897 bei Hermann Amandus Schwarz über isotherme Parameter bei Flächen promovierte und der in jüngeren Jahren – besonders vor seiner Berufung 1914/15 an die Königlich Technische Hochschule zu Berlin – über Differentialgeometrie arbeitete. Er wurde 1939 emeritiert.
Beiden (Hamel und Rothe) war übrigens gemeinsam, dass sie sich auch um Themen der Schulmathematik kümmerten und sich dazu in Publikationen zu Wort meldeten. Diese Sitte scheint später durch den Aufbau einer separaten Fachdidaktik weitgehend abhanden gekommen zu sein.
Julius Weingarten (1836-1910), der 1. Vorsitzende der BMG in den Jahren 1901-1902, nach dem einiges in der Differentialgeometrie benannt ist, war Professor für Mathematische Physik an derselben Hochschule, aber nicht für Geometrie.
Auch Wolfgang Haack (1902-1994) könnte man nennen, der von der Differentialgeometrie kommend sich dann mehr und mehr den Anwendungen zuwandte. Er hatte ab 1949 den Lehrstuhl für Mathematik und Mechanik an der TU Berlin inne.
Historisch war es aber wohl so, dass keiner der bisher Genannten jemals den Lehrstuhl für Geometrie innehatte. Die Differentialgeometrie galt wohl eher als Teil der Analysis, nicht als Teil der Geometrie.
Von den ursprünglich zwei Lehrstühlen für Geometrie und Darstellende Geometrie blieb einer all die Jahrzehnte erhalten, in der zeitlichen Reihenfolge waren die Lehrstuhlinhaber (zitiert nach [2]): Hugo Hertzer (1831-1908), Stanislaus Jolles (1857-1942), Gerhard Hessenberg (1874-1925). Erich Salkowski (1881-1943). Man kann im Zentralblatt für Mathematik auch deren Werke noch verfolgen.
Die älteren Autoren wurzeln eindeutig in der klassischen Darstellenden und Analytischen Geometrie. Salkowski ist ebenfalls Autor eines Lehrbuches über Darstellende Geometrie, hat aber auch viel über die Differentialgeometrie von Kurven und Flächen gearbeitet. Auch er äußerte sich zum Schulunterricht, zum Beispiel in einem Büchlein „Der Gruppenbegriff als Ordnungsprinzip des geometrischen Unterrichts“, Teubner 1924 (2. Aufl. 1933), eine erstaunlich „moderne“ Sichtweise, die ironischerweise spätestens nach dem Jahre 2000 im Zuge der neuen „PISA-Mathematik“ wieder verschwunden ist.
Nach dem Zusammenbruch 1945 wollte man an der am 9. April 1946 neu gegründeten TU Berlin den Lehrstuhl für „Geometrie“ beibehalten, und Eduard Rembs (1890-1964) war ab 1946 zunächst außerordentlicher und ab 1949 ordentlicher Professor für Geometrie, wurde aber bereits 1956 emeritiert. Er war in der Zeit des Nationalsozialismus degradiert und sogar als Gymnasiallehrer entlassen worden, die angestrebte Habilitation wurde ihm als SPD-Mitglied 1935 verweigert (laut [2] durch persönliche Intervention von Ludwig Bieberbach). Der Vater des Autors hatte bei ihm Anfang der 1930er Jahre bis zum Abitur Mathematik-Unterricht am Spandauer Kant-Gymnasium und erzählte gelegentlich in positivem Sinne davon, obwohl er Mathematik gar nicht mochte. Rembs arbeitete viel über Verbiegungen von Flächen, berühmt wurden seine Beispiele verbiegbarer Flächen: Man schneide zum Beispiel einen Tischtennisball ein Stück auf und verbiege die so entstehende Fläche, die weiter eine konstante Krümmung behält. Sein Doktorand Wolfgang Böhm (Promotion 1953) galt als Pionier des Computer Aided Geometric Designs (CAGD) und war später Dozent am Lehrstuhl für Geometrie und nach der Habilitation Professor an der Technischen Hochschule Braunschweig.
Karl Strubecker (1904-1991, damals Ordinarius in Karlsruhe) lehnte einen Ruf auf die Nachfolge von Rembs ab – laut dem Nachruf von Kurt Leichtweiß in den DMV-Jahresberichten 94/3 (1992) –, und schließlich bekleidete Hans Robert Müller (1911-1999, vorher Professor in Ankara) ab 1956 den Lehrstuhl für Geometrie, bevor er 1963 an die TH Braunschweig wechselte. Aus seiner Berliner Zeit gibt es keine Doktoranden, aber er vertrat eine sehr angewandte Richtung der Geometrie, die — gerade an einer Technischen Universität — zu Themen wie Mechanik, Kinematik, Bewegung von Getrieben und so fort sehr gut passte.
Kurt Leichtweiss
Kurt Leichtweiß 1977 in Thessaloniki
 
Als Nachfolger wurde 1963 Kurt Leichtweiß (1927-2013) berufen, der 1951 in Freiburg im Breisgau bei Wilhelm Süss promoviert hat. Er fand sich als „reiner Mathematiker“ und bis dahin „nur“ Privat-Dozent in der für ihn eigentlich ungewohnten Umgebung einer Technischen Universität gut zurecht und erwarb sich schnell Ansehen. Sein erster Doktorand wurde Hermann Karcher, der ihm von Freiburg nach Berlin gefolgt war und bald darauf in die weite Welt und schließlich nach Bonn ging, wo er noch heute (2023) als Emeritus tätig ist. Zu den Pflichten des Lehrstuhls gehörte auch die Darstellende Geometrie, das war eine eherne Tradition. Noch 1969 hat Leichtweiß neben der Differentialgeometrie diese Vorlesung gehalten, die aber schon damals für Mathematik-Studenten nicht mehr im Pflichtprogramm stand, weswegen der Autor sie leider nicht besucht hat.
Das Vorlesungsverzeichnis 1968/69 nennt für den Lehrstuhl für Mathematik und Geometrie folgendes wissenschaftliches Personal (mit Titeln wie angegeben):
  • o. Prof. Dr. Kurt Leichtweiß (Ordinarius)
  • Dr. Dietrich Roether (Oberassistent)
  • Dr. Hermann Karcher (beurlaubt)
  • Dr. Udo Simon (Assistent)
  • Dipl.-Math. Bernd Wegner (Assistent)
  • Dipl.-Math. Detlef Krüger (Assistent)
Der eigentlich noch dazugehörige Prof. Dr. Nikolaus Stephanidis war dem Lehrstuhl für Mathematik und Mechanik (Ordinarius Hubertus Weinitschke) zugeordnet, weil er dort von 1962 bis 1966 Assistent war, aber er gehörte fachlich in die Geometrie. Im Vorlesungsverzeichnis stehen gemeinsame Seminare mit Leichtweiß. Er ging allerdings schon 1969 zurück in seine griechische Heimat und wurde Ordinarius in Thessaloniki.
Man sollte jenseits des Lehrstuhls für Geometrie noch Jörg Wills erwähnen, damals Oberassistent am Lehrstuhl von Ernst Mohr. Sein Gebiet war die Konvexgeometrie und die Geometrie der Zahlen. In Vorlesungen erzählte er freimütig, er müsse immer mit einem jungen Kollegen in Wien (Peter Gruber) korrespondieren, weil er an der TU Berlin keinen Gesprächspartner für sein Spezialgebiet habe. Nach ein paar Jahren erhielt er einen Lehrstuhl an der neu gegründeten Gesamthochschule Siegen.
Als Besonderheit ist für das Wintersemester 1968/69 eine Vorlesung „Wiederholung der Schulmathematik“ aufgeführt, gehalten vom Lehrbeauftragten OStD1) Dr. phil. Gerhard Engel, der gleichzeitig Leiter des Studienkollegs war. Es hieß: „Das Studienkolleg hat die Aufgabe, ausländischen Studenten, deren Vorbildungsnachweis einem deutschen Reifezeugnis nicht voll entspricht, die Hochschulreife zu vermitteln.“ Dieses Studienkolleg gibt es noch heute. Allerdings gibt es inzwischen ganz ähnliche Kollegs (zum Beispiel das MINT-Kolleg in Baden-Württemberg) mit der Aufgabe, auch den deutschen Studenten mit vollwertigem Reifezeugnis die Schulmathematik zu vermitteln, damit sie nicht im Lehrbetrieb untergehen.
Aber es war die Zeit eines großen Umbruchs im akademischen Bereich, und als Folge der Studentenbewegung gab es in Berlin ein neues Hochschulgesetz, das unter anderem die Abschaffung der Lehrstühle als organisatorische Einheiten vorsah. Entweder als Folge davon oder in Vorwegnahme haben sich schon 1969/70 einige Lehrstühle zu einem Mathematischen Institut zusammengeschlossen und sogar ihre Lehrstuhlbibliotheken zu einer Institutsbibliothek zusammengelegt, – im konkreten Fall – untergebracht in einem Raum am Lehrstuhl für Geometrie. Das war fast eine Demonstration gegen die sogenannte „Ordinarienuniversität“. Im Personalverzeichnis wurden dann auch die Assistenten nicht mehr nach Lehrstuhlzugehörigkeit unterschieden, sie waren halt „am Institut“. Der Autor hatte die Ehre, als studentische Hilfskraft Anfang 1970 diese zusammengelegte Bibliothek unter Anleitung des Assistenten Bernd Wegner neu zu ordnen. Beteiligt daran waren der Lehrstuhl für Geometrie (Leichtweiß), der Lehrstuhl für Mathematik und Mechanik (Weinitschke) sowie die nur nummerierten Lehrstühle für Mathematik von Hans-Wilhelm Knobloch und Christian Pommerenke als damals jüngstem Ordinarius (dessen 90. Geburtstag Ende 2023 ansteht). Einige ältere Ordinarien mochten da nicht mitziehen, das kann man noch etliche Jahre lang in den Personalverzeichnissen verfolgen. Alsbald wurden auch die Fakultäten abgeschafft und durch Fachbereiche ersetzt, also gab es einen Fachbereich Mathematik mit einem Fachbereichsratsvorsitzenden, aber keinen Dekan mehr.
Weil aber gleichzeitig auch bundesweit eine starke Expansion der Universitäten einsetzte, nahmen viele diese Gelegenheit wahr, und die Extraordinarien wie auch die meisten Ordinarien bekamen Rufe nach auswärts und nahmen sie an, nur Pommerenke lehnte ab und blieb der TU Berlin bis zu seiner Emeritierung 1999 erhalten. Leichtweiß ging 1970 nach Stuttgart, als Hauptgrund erzählte er später, die Hochschulleitung habe sich nicht um seine Bleibeverhandlungen gekümmert (er hatte laut [2] zuvor schon einmal einen Ruf an die TH Darmstadt abgelehnt). Er erhielt ein sehr gutes Angebot mit großzügigen Räumlichkeiten und sechs (!) Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter, die ihm sein Vorgänger (Heinrich Brauner, der in seine Heimat Wien zurückkehrte) hinterlassen hatte.2) Auch in Stuttgart stand Leichtweiß in hohem Ansehen. Ein Kollege sprach von ihm auch mal als „mathematisches Urgestein“. Übrigens blieb in Stuttgart dagegen die Lehrstuhlstruktur bis heute (2023) erhalten.
Dieser Weggang hatte in Berlin eine deutliche Zäsur zur Folge, wenngleich die Mitarbeiter des Lehrstuhls fast alle blieben (nur Roether ging an die Fachhochschule Furtwangen, und Karcher war schon in Bonn). Es fehlte nun aber jemand, der das alles am ehemaligen Lehrstuhl (jetzt Schwerpunkt Geometrie) „unter einen Hut“ brachte, und das änderte sich auch nicht wesentlich, als schon im Herbst 1970 Rolf Schneider (Jahrgang 1940) als Nachfolger berufen wurde. Er brachte zwei promovierte Mitarbeiter mit und war bekannt für gute Vorlesungen mit einer erstaunlich schnellen und dennoch sauberen Handschrift an der Tafel.
Rolf Schneider
Rolf Schneider 1975 in Oberwolfach
 
Wissenschaftlich war und ist er international hoch angesehen, aber hinsichtlich des wissenschaftlichen Nachwuchses ergab sich nichts, schon 1974 ging er nach Freiburg im Breisgau und nahm seine beiden Mitarbeiter wieder mit (einer der beiden, Wolfgang Weil, wurde später Ordinarius in Karlsruhe). Dazu haben die Wirren des Umbruchs an der TU Berlin gewiss beigetragen. Die Fachbereiche sollten plötzlich organisatorische Aufgaben übernehmen, auf die sie kaum vorbereitet waren; es gab Spannungen mit den aufmüpfigen Studenten und auch mit der nicht immer glücklich agierenden Hochschulleitung, und Schneider hatte als Fachbereichsratsvorsitzender an allen Fronten zu kämpfen und äußerte auch gelegentlich seinen Unmut. Legendär wurde seine scharfzüngige Kritik an der Maßnahme, die Pedelle von der Pflicht zum Reinigen der Tafeln zu entbinden, was dann also die Dozenten selber machen mussten. Die offizielle Begründung: Diese Tätigkeit erlaube den Pedellen nicht, sich weiter zu qualifizieren. Für die Dozenten traf dasselbe natürlich auch zu. Es ist auch eine gewisse Ironie, dass mit Leichtweiß, Schneider und Wills drei der prominentesten deutschen Konvexgeometer innerhalb weniger Jahre an der TU Berlin tätig waren, aber eben nicht in tatsächlichem Zusammenhang.
Es folgte also wieder eine Vakanz, und zwar für etwas längere Zeit. Lehre und Forschung wurden bei steigenden Studentenzahlen und einer allgemeinen Fluktuation im übrigen Lehrkörper von den Nicht-Ordinarien (Simon, Wegner und Koutroufiotis) und auch von den neuen Assistenzprofessoren (Führer, Pfender) aufrechterhalten. Typisch für diese Zeit war das Entstehen des 1973 erschienenen Bandes „Beweismethoden der Differentialgeometrie im Großen“ mit gleich sieben (!) Autoren, keiner davon in Berlin ein Lehrstuhlinhaber (Springer Lecture Notes in Mathematics 335).
Das Hochschulverzeichnis von 1974/75 führte für den Bereich der Geometrie auf:
  • o.Prof. N.N.
  • Prof. Dr. Udo Simon
  • Prof. Dr. Bernd Wegner
  • Dr. Lutz Führer (Ass.-Prof.)
  • Dr. Michael Pfender (Ass.-Prof.)
  • Dipl.-Math. Bernhard Behrens
  • Dipl.-Math. Harald Huck
  • Dipl.-Math. Wilhelm Vortisch
  • Dr. Rainer Walden
Aber diese Liste täuscht: Behrens, Führer und Pfender waren keine Geometer, und Vortisch und Walden verließen im selben Jahr die Hochschule, Führer ging 1975 in den Schuldienst und wurde später Professor für Mathematikdidaktik in Frankfurt am Main), Behrens ging nach Schweden. Der Ass.-Prof. Dr. Fritz Gackstatter, ein Experte für Minimalflächen, galt nicht als Geometer, sondern gehörte zum Schwerpunkt Funktionentheorie. Prof. Dimitri Koutroufiotis war 1974 noch nicht berufen worden, ging aber bald darauf in seine griechische Heimat als Ordinarius in Ioannina zurück.
So entstand ein regelrechtes Vakuum: ein vakanter Lehrstuhl mit nur noch einem einzigen Assistenten, der wirklich zur Geometrie gehörte. In Zeiten von Sparmaßnahmen hätte da möglicherweise eine Auflösung gedroht. In dieser kritischen Situation wurde zum WS 1974/75 der Autor als frisch diplomierter Assistent eingestellt, da waren es wenigstens zwei, und beide teilten sich ein größeres Büro. Einige kamen später noch hinzu (1976 gab es 5 Assistenten). Im Jahr 1975 kam Dirk Ferus (Jahrgang 1940) als neuer Lehrstuhlinhaber. Er blieb bis zu seiner Emeritierung, was für die beiden anderen im Professorenrang ebenfalls gilt; der Bestand des Fachgebiets Geometrie war somit gesichert. Auch Ulrich Brehm war 1975-78 Assistent am Fachbereich, aber nicht in der Arbeitsgruppe der Geometrie. Er entwickelte sich erst später zu einem Geometer und wurde 1993 Professor am Institut für Geometrie der TU Dresden. Der Autor hatte mit ihm viele Gemeinsamkeiten über 5 Jahrzehnte.
Wolfgang Kuehnel und Ulrich Brehm
Ulrich Brehm (rechts) mit dem Autor Wolfgang Kühnel 2012 in Oberwolfach
 
Durch die allgemeine Expansion entstand ein gewisser Mangel an Räumen im sogenannten „alten“ Hauptgebäude der TU. Der Autor erinnert sich, mal einen (Ober-)Seminarvortrag im Dienstzimmer von Udo Simon an einer recht kleinen Tafel gehalten zu haben – bereits in Gegenwart von Dirk Ferus, der sich stets bemühte, eine freundliche Atmosphäre am Lehrstuhl zu schaffen und der nach der Erinnerung des Autors nie den „Chef“ herauskehrte. Auch er war bekannt für gute Vorlesungen.
Dirk Ferus
Dirk Ferus, hier bei seiner Emeritierung im Jahr 2008
 
In der Folgezeit (spätestens 1980) wurde auch im Vorlesungsverzeichnis der Unterschied zwischen „o. Prof.“ und „Prof.“ abgeschafft (in der Besoldung natürlich nicht), es gab keine Lehrstühle mehr als verwaltungsmäßige Einheiten, und infolgedessen gab es auch niemanden mehr, der eine „Chef-Position“ wie zuvor ein Lehrstuhlinhaber einnahm. Das hätte dem demokratischen Zeitgeist nicht entsprochen, man setzte auf gleichberechtigte Kooperation. Das hatte aber den Nachteil, dass sich für manche Dinge niemand mehr zuständig fühlte oder dass eine neue Einheit („Schwerpunkt“ genannt) in Untereinheiten mit konkurrierenden Professoren zerfallen konnte. Auch hatten die Professoren immer weniger zu sagen, eine wachsende Administration dafür umso mehr (zum Beispiel die zentrale Entwicklungs-Planungs-Kommission, kurz EPK). Die Einstellung neuer Assistenten wurde dem Fachbereich nach einem Punktesystem überlassen, was gelegentlich dazu führte, dass dann niemand mit solchen Assistenten zusammenarbeiten wollte. Die 1970 eingeführten Assistenz-Professuren (auch der Autor erhielt 1978 eine solche) wurden alsbald wieder abgeschafft (und waren – entgegen manchen vorherigen Ankündigungen – eben nicht mit „tenure track“ ausgestattet). Es gab nun wissenschaftliche Mitarbeiter und einige wenige Hochschulassistenten, denen die Möglichkeit zur Habilitation gegeben werden sollte, aber wieder ohne „tenure track“. Der Zeitgeist wird auch daran deutlich, dass nach den Buchstaben des Gesetzes eine zeitlang niemand wissenschaftlicher Mitarbeiter werden durfte, der bereits promoviert war. So stellte sich der Gesetzgeber damals eine Universität vor. Überleitungen auf Dauerstellen gab es seit etwa 1970 nicht mehr, viele neu berufene Professoren waren zwischen 30 und 40 Jahre alt (nicht nur in Berlin), so war die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses alles andere als gut. Sparmaßnahmen kamen wenig später noch hinzu, beispielsweise wurde die Professur von Koutroufiotis nach dessen Weggang 1979 nicht mehr besetzt. Zudem gab es in West-Berlin kein Umland, zu dem es Kontakte hätte geben können. Kollegen aus Ost-Berlin durften keine Kontakte zu ihresgleichen in West-Berlin haben, die Stasi fürchtete Spionage oder gar Fluchtversuche, selbst einen Briefverkehr gab es praktisch nicht, auch der galt als verdächtig. Als dann 1989/90 die Wende kam, wussten die Wissenschaftler hüben und drüben voneinander oft nicht mehr als die Namen aus Publikationen (wenn überhaupt). Nur wenige Ausnahmen werden berichtet, meist aufgrund sehr persönlicher Verbindungen oder kraft Amtes, zum Beispiel bei der Zusammenarbeit zwischen Ost und West beim Zentralblatt für Mathematik. Dessen Chefredakteur Wegner durfte noch lange Jahre mit dem Auto die Berliner Mauer passieren und nach Adlershof zur dortigen Akademie fahren, um Angelegenheiten für das Zentralblatt zu regeln, das gemeinsam von der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurde, wobei die Redaktion aus zwei Teilen in Ost- und West-Berlin bestand. Das hörte Ende der 1970er Jahre auf, als das Zentralblatt zu einem Teil des neuen Fachinformationszentrums Karlsruhe wurde. Dies war für die Ost-Berliner Seite zu viel des Kapitalismus.3)
Bernd Wegner
Bernd Wegner bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Ionischen Universität in Korfu im Jahr 2016
 
Im Verzeichnis vom Wintersemester 1981/82 wurde folgendes für die Geometrie aufgeführt:
  • Prof. Dr. Dirk Ferus
  • Prof. Dr. Udo Simon
  • Prof. Dr. Bernd Wegner
  • Dr. Wolfgang Kühnel (Hochschulassistent)
  • Dipl.-Math. Targo Pavlista (wiss. Mitarbeiter)
  • Dipl.-Math. Bernd Rämer (wiss. Mitarbeiter)
  • Dipl.-Math. Angela Schwenk (wiss. Mitarbeiterin)
  • Dr. Heinz Wissner (wiss. Assistent)
Udo Simon mit Shiing-Shen Chern
Udo Simon (links), hier zusammen mit Shiing-Shen Chern, im Jahr 1981 in Berlin-Tiergarten
 
Im Hinblick auf den oft beklagten Mangel an Frauen in der Mathematik sollte man Angela Schwenk als spätere Professorin für Mathematik an der Technischen Fachhochschule Berlin hervorheben. Diese Hochschule hieß ab 2009 Beuth-Hochschule für Technik und ist – weil der Namensgeber Christian Peter Wilhelm Beuth aus politischen Gründen jüngst in Ungnade fiel – heutzutage erneut, und zwar in Berliner Hochschule für Technik umbenannt.
Man sollte auch Ahmet Simsek erwähnen, der 1980 für kurze Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war und dann nach seiner Promotion bei Wegner Dozent an einer Universität in seiner türkischen Heimat wurde. Sein Studium musste er wegen seines Militärdienstes in der Türkei unterbrechen. Die gebürtigen West-Berliner dagegen blieben davon wegen des Vier-Mächte-Status verschont. Sie konnten gleich nach dem Abitur mit dem Studium beginnen, so auch der Autor.
Im selben Jahr 1981 bezog man das neue (blaue) Mathematik-Gebäude nördlich der Straße des 17. Juni, die Zersplitterung des Fachbereichs durch Aufteilung auf mehrere Gebäude hatte damit ein Ende, und die Raumsituation besserte sich erheblich, insbesondere gab es mehr Seminarräume, der Schwerpunkt Geometrie zog im 8. Stock ein. Ein Kennzeichen waren die größeren Professoren-Zimmer auf der einen Seite des Ganges (der Außenseite des Gebäudes) und die kleineren (recht schmalen) Assistentenzimmer auf der anderen (der Innenseite zwischen den beiden Flügeln des Gebäudes). Ein Hauch der alten Lehrstuhl-Struktur blieb dennoch erhalten: Am Anfang des Ganges befand sich zuerst das Sekretariat, dann das Büro des Ordinarius (Ferus), dann die der anderen Dozenten.
Eine Liste aller Promotionen und Habilitationen für die gesamte Mathematik dieser Zeit ist in [2] zu finden. Dieser Bericht endet mit dem Jahre 1985, als der Autor einen Ruf an die damals so genannte Universität–Gesamthochschule Duisburg annahm und an der TU Berlin alsbald größere Veränderungen durch neu berufene Kollegen anstanden (zuerst Ulrich Pinkall, Jahrgang 1955, promoviert in Freiburg im Breisgau, in den 1990er Jahren dann Alexander Bobenko, Jahrgang 1959, er promovierte am Steklov-Institut). Insbesondere hielten diskrete Methoden und der Computer Einzug in die Differentialgeometrie und zwar in Gestalt der „Diskreten Differentialgeometrie“, die gleichwohl gänzlich anders gedacht war als die numerische Geometrie mit Splines (auch unter der Bezeichnung „Flächen in der EDV“ und „CAGD“ bekannt).
Nach der Wende entstanden neue Kontakte zur Geometrie an der Humboldt-Universität (Helga Baum, Thomas Friedrich) und über Konrad Polthier (Jahrgang 1961) an der TU Berlin und FU Berlin, der als Doktorand von Hermann Karcher und über Leichtweiß mit der Berliner Geometrie vorheriger Jahrzehnte verbunden ist.
 

Referenzen

[1]   Heinrich Begehr: Mathematiker in Berlin, eine Sammlung von Fotos
[2]   Eberhard Knobloch: Mathematik an der Technischen Hochschule und der Technischen Universität Berlin: 1770-1988, Verlag für Wissenschafts- und Regionalgeschichte, Berlin, 1998, 123 S. (enthält auch Listen von Promotionen und Habilitationen)
[3]   Catalogus Professorum, Eine Datenbank zur Geschichte der Technischen Universität Berlin
 

Bildnachweis

Ulrich Brehm mit Wolfgang Kühnel   Quelle: Oberwolfach Photo Collection, Wiedergabe gemäß Creative Commons License Attribution-Share Alike 2.0 Germany, allerdings ist das Bild an beiden Seiten beschnitten, so dass sich ein Breiten-Höhen-Verhältnis von 4:3 ergibt
Bernd Wegner   Foto von Olaf Ninnemann 2016, mit freundlicher Genehmigung zur Wiedergabe
alle anderen Fotos   aus dem Fundus von Dirk Ferus, mit freundlicher Genehmigung zur Wiedergabe

1) Oberstudiendirektor
2) Zwei der Stellen wurden später in Professuren umgewandelt (eine nahm Gerd Blind ein, der noch bei Brauner promovierte), aber drei davon blieben bis heute unter den Nachfolgern auf dem Lehrstuhl, Hermann Hähl und Uwe Semmelmann, als solche erhalten.
3) Traurigerweise ist zu vermelden, dass während der Ausarbeitung dieses Zeitzeugenberichts Bernd Wegner überraschend verstarb. Mehr ist im Nachruf zu erfahren.