Mathematiker des Monats September 2019
Karl Schellbach (1804-1892)
von
Peter Ullrich
In vielen Biographien von Mathematikern, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin studiert haben,
wird Karl Schellbachs Wirken in der Lehrerbildung erwähnt: Unter anderem
Georg Cantor (1845-1918),
Alfred Clebsch (1833-1872),
Lazarus Fuchs (1833-1902),
Leo Koenigsberger (1837-1921),
Carl Neumann (1832-1925),
Arthur Schönflies (1853-1928) und
Hermann Amandus Schwarz (1843-1921) haben an dem von Schellbach geleiteten
und am
Friedrich-Wilhelms-Gymnasium
in Berlin angesiedelten Mathematisch-pädagogischen Seminar zur praktischen Vorbereitung auf die
Tätigkeit als Gymnasiallehrer im Fach Mathematik teilgenommen.
Weiterhin wird auch heutzutage noch die von Schellbach entwickelte Methode zur Bestimmung lokaler Extrema von
reellen Funktionen ohne (explizite) Verwendung der Differentialrechnung diskutiert. Überdies war er
Verfasser der ersten Denkschrift zur Gründung der späteren Physikalisch-Technischen Reichsanstalt
(der heutigen
Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, PTB) und persönlicher
Mathematiklehrer des Hohenzollern-Prinzen Friedrich Wilhelm (1831-1888), des späteren Kaiser
Friedrich III.
Leben
Karl Heinrich Schellbach wurde am 25. Dezember 1804 in Eisleben geboren. (Die Jahresangabe schließt sich
an die Darstellung in der von seinem Schüler
Felix Müller verfassten
Würdigung an, aus der auch das obige Porträt stammt; einige biographische Verzeichnisse behaupten
hingegen, Schellbach sei erst 1805 geboren.) Trotz ärmlicher Familienverhältnisse konnte er in Halle an der
Universität Mathematik, Physik und Philosphie studieren.
Mathematik soll er dabei noch bei
Johann Friedrich Pfaff (1765-1825) gehört
haben, dem Doktorvater von
Carl Friedrich Gauß (1777-1855).
Da Pfaff am 21. April 1825 starb, würde dies einen Studienbeginn im Jahr 1824 bedeuten; andere Quellen
nennen das Jahr 1825. Definitiv besuchte er Veranstaltungen zur Physik bei
Johann Salomo Christoph Schweigger
(1779-1857) und zur Philosophie bei
Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs
(1794-1861). Schweigger, der Doktorvater von
Wilhelm Weber (1804-1891), hatte dabei eine
Zeitlang durch seine schwärmerisch geprägten Vorlesungen erheblichen Einfluss auf Schellbach.
Während seines Studiums entschied sich Schellbach, den Beruf des Lehrers an höheren Schulen
anzustreben, legte aber kein Staatsexamen und, zumindest vorerst, auch keinen sonstigen Studienabschluss ab.
Dennoch erhielt er 1829 eine Stelle als Lehrer für Naturwissenschaften an einer höheren
Mädchenschule in Berlin.
Erst 1834 schloss er formal sein Studium ab, durch eine Promotion an der Universität Jena mit einer
Schrift „Über die Zeichen der Mathematik“, die im gleichen Jahr im
Journal für die reine und angewandte Mathematik
veröffentlicht wurde:
Der Mann, der die Praxis des Gymnasialunterrichts im Fach Mathematik, insbesondere die schulbezogene Ausbildung
der Gymnsiallehrer, in Preußen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr prägte als jeder
andere, legte zeit seines Lebens kein preußisches Staatsexamen ab!
Dennoch erhielt er noch im gleichen Jahr eine Stelle als Lehrer am
Friedrichwerderschen Gymnasium in
Berlin, offenbar auch auf Empfehlung von
Peter Gustav Lejeune Dirichlet (1805-1859) hin.
Dieser hielt große Stücke auf das Talent Schellbachs als Lehrer, während jener
Dirichlets Vorlesungen als klar und vollendet schätzte – aber dennoch der Meinung war,
diese seien für die Mehrzahl der Berliner Studenten viel zu schwierig.
Ob das preußische Staatsexamen bei der Einstellung an einem Gymnasium vorausgesetzt wurde,
hing entscheidend von dessen Direktor ab; ein Gegenbeispiel zu Schellbach bildet
Jacob Steiner (1796-1863), der als Nicht-Preuße von der Verpflichtung
zum Staatsexamen hätte befreit werden können, den aber sein Schuldirektor dazu zwang.
Bereits am Friedrichwerderschen Gymnasium unterrichtete Schellbach
Ferdinand Gotthold Max Eisenstein (1823-1852) in
Mathematik. Diesem begegnete er wieder, nachdem er 1841 zum Gymnasialprofessor für Mathematik und Physik
am renommierten Friedrich-Wilhelms-Gymnasium befördert worden war. Weitsichtig vermerkte er in Eisensteins
Reifeprüfungszeugnis über die am 22. September 1843 erfolgte mündliche Prüfung:
„In der Mathematik reichen seine Kenntnisse
weit über den Umfang des Gymnasialunterrichts hinaus. Sein Talent und sein Eifer berechtigen zu der
Erwartung, dass er einst wesentlich zur Ausbildung und zur Erweiterung der Wissenschaft beitragen werde.“
Jahrzehnte später zählte auch
Kurt Hensel (1861-1941) zu Schellbachs Schülern am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium.
Schellbachs Lehrtätigkeit wäre jedoch nur unvollständig beschrieben, wenn man ihn allein als
Lehrer von später erfolgreichen Mathematikern charakterisieren würde:
Paul Heyse1) (1830-1914),
der Literaturnobelpreisträger von 1910, war durchaus kritisch gegenüber Autoritäten.
In seinen „Jugenderinnerungen“ berichtete er jedoch über seinen Mathematikunterricht bei
Schellbach, dieser habe ihn trotz fehlender mathematischer Begabung gut behandelt.
Seine Fähigkeit, Mathematik Nicht-Mathematikern nahezubringen, setzte Schellbach auch
außerschulisch ein: Seit 1843 unterrichtete er per Lehrauftrag Mathematik auch an der Kriegsakademie,
später auch am Gewerbeinstitut und an der Artillerieschule in Berlin. Sein bekanntester Schüler war
allerdings Prinz Friedrich Wilhelm, dem er Privatunterricht in Mathematik erteilte.
Dieser folgte seinem Onkel Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) und seinem Vater Wilhelm I. (1797-1888) auf dem
Thron nach und wurde 1888 für 99 Tage als Friedrich III. preußischer König und deutscher Kaiser.
Parallel zu den Erfolgen in der eigentlichen Lehrtätigkeit entwickelte sich die Position Schellbachs in
der Ausbildung von Gymnasiallehrern: Er wurde Mitglied der wissenschaftlichen Prüfungskommission,
wodurch er großen Einfluss bei der Besetzung von Gymnasiallehrerstellen in Preußen hatte.
Und im Jahr 1855 kam es zur Gründung des von ihm geleiteten Mathematisch-pädagogischen Seminars
am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, in welchem Studenten der Mathematik auf die unterrichtliche Tätigkeit als
Gymnasiallehrer vorbereitet wurden.
Auch im akademischen Bereich war Schellbach tätig, wenn auch zumeist in Kooperation mit
Universitätsmathematikern: Im Oktober 1844 verfasste er gemeinsam mit
Carl Gustav Jacob Jacobi (1804-1851) eine Eingabe an den
Kultusminister Friedrich Eichhorn (1779-1856)
bezüglich der Einrichtung eines mathematischen Instituts nach dem Vorbild des Königsberger Seminars.
Dabei griffen sie auch auf bereits zu Papier gebrachte Pläne zurück, in Berlin eine an der Pariser
École polytechnique orientierte
Institution zu schaffen.
Von 1857 (Band 53) bis 1881 (Band 90) war Schellbach zudem Mitherausgeber des Journals für die
reine und angewandte Mathematik: Offizieller Herausgeber in dieser Zeit war
Carl Wilhelm Borchardt (1817-1880),
der diese Tätigkeit „unter Mitwirkung der Herren Steiner, Schellbach, Kummer, Kronecker,
Weierstrass“ versah, wie die Titelblätter des Journals auswiesen.
In der Geschichte der Technik, insbesondere der Metrologie, hat er durch die „Schellbach-Denkschrift“
Spuren hinterlassen, in der er sich im Jahr 1872 im Anschluss an die Gründung des deutschen Kaiserreichs
für die Gründung eines Staatsinstituts für Messtechnik aussprach. Obwohl diese Idee durch
Hermann Helmholtz2) (1821-1894) und
Wilhelm Foerster (1832-1921) unterstützt wurde,
kam es allerdings erst fünfzehn Jahre später zur Gründung der
Physikalisch-Technischen
Reichsanstalt in (Berlin-)Charlottenburg.
Am 29. Mai 1892 verstarb Karl Schellbach in Berlin.
Werk
Schellbach war ein produktiver Autor sowohl von Zeitschriftenartikeln als auch von Büchern.
Viel von seinem Einfluss war aber auch seinem unmittelbaren Wirken im Gespräch zu verdanken,
sei es als Mathematiklehrer bzw. als Ausbilder von Mathematiklehrern, sei es in seinem persönlichen
Netzwerk zwischen Wissenschaft und Politik.
Artikel im Journal für die reine und angewandte Mathematik sowie Bücher
Schellbach hat auch zahlreiche Zeitschriftenbeiträge zur Physik, insbesondere in den
Annalen der Physik und Chemie
(„Poggendorffs Annalen“) und in der
Zeitschrift für den physikalischen und chemischen Unterricht veröffentlicht;
an dieser Stelle sollen jedoch nur die Artikel zur Mathematik betrachtet werden, welche im
Journal für die reine und angewandte Mathematik in den Jahren von 1832 bis 1881 erschienen sind,
also über fast ein halbes Jahrhundert hinweg.
Dass Schellbach während dieser Zeit eine ansehnliche Anzahl von Artikeln veröffentlichte,
wird kaum überraschen; allerdings sind seine Beiträge zumeist nur wenige Seiten lang und enthalten
keine selbst entwickelten Theorien. Bei diesen Arbeiten eines Gymnasiallehrers handelt es sich aber in jedem
Fall primär um fachmathematische Veröffentlichungen, in denen er oft die Darstellung bereits vorher
gefundener Resultate verbesserte.
So leitete er gleich in seiner ersten Arbeit „Über den Ausdruck π = (2/i)·log i“
(1832) aus jener Formel schnell konvergente Reihen für π und die natürlichen Logarithmen der
ersten vier Primzahlen her. Selbst in seiner Dissertation, deren Titel „Über die Zeichen der
Mathematik“ (1834) einen hermeneutischen Bezug vermuten lässt, setzte er sich zwar in den ersten
drei Paragraphen in der Tat mit mathematischen Bezeichnungsweisen auseinander, analysierte aber auch dort
schon die inhaltlichen Zusammenhänge mathematischer Operationen; im Folgenden beschäftigte er sich
mit Reihendarstellungen von Funktionen.
Die meisten von Schellbachs Artikel befassen sich mit der Analysis einer reellen Veränderlichen oder
auch anderen Themen mit Bezug zum Gymnasialunterricht bzw. zur Anfängerausbildung wie die Anfänge
der Differentialgeometrie, Problemstellungen der Mechanik oder Trigonometrie. In einigen Arbeiten behandelte
er aber auch ganz aktuelle Forschungshemen, mit denen sich damals zum Beispiel
Karl Weierstraß (1815-1897) auseinandersetzte,
wie elliptische Funktionen und Variationsrechnung. Schellbachs Artikel
„Probleme der Variationsrechnung“ aus dem Jahre 1851 ist dabei mit über 70 Seiten
Umfang nicht nur außergewöhnlich lang, der Autor behandelt in dessen letzten Paragraphen
zudem das Problem der Bestimmung einer Minimalfläche zu einer gegebenen Berandung in einer Weise,
die sich als „Vorahnung“ der Methode der finiten Elemente interpretieren lässt.
(Von Ingenieuren in der Praxis eingesetzt wurde diese Methode erst gut hundert Jahre später.)
Über „Die Lehre von den Elliptischen Integralen und den Theta-Funktionen“
veröffentlichte Schellbach 1864 sogar ein ganzes Buch, welches sich im Vergleich zu den Arbeiten von
Jacobi und Weierstraß zu dem gleichen Thema vor allen Dingen mit den Anwendungen dieser Funktionentypen
in Astronomie und Physik beschäftigte. Auch andere Themen aus seinen Zeitschriftenartikeln griff
Schellbach in Buchform auf, so Kegelschnitte (1843), darstellende Optik (1851) und Mechanik (1860).
Das letztgenannte Buch sowie die Werke „Mathematische Lehrstunden“ (1860) und
„Sammlung und Auflösung mathematischer Aufgaben“ (1863) waren dabei aus Übungen in dem
Mathematisch-pädagogischen Seminar entstanden und von Dritten aufgeschrieben worden.
Weiterhin verfasste Schellbach Bücher, in denen er sich zum Mathematikunterricht an Gymnasien
äußerte (1866, 1887), und brachte auch nach dessen Tod seine „Erinnerungen an den
Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen“ zu Papier (1890).
Die Schellbachsche Methode zur Bestimmung von Extrema
Im Buch „Mathematische Lehrstunden“ von 1860 findet sich auch eine Beschreibung der von
Schellbach propagierten Methode, lokale Extremstellen von Funktionen einer reellen Veränderlichen ohne
(formale) Verwendung der Differentialrechnung zu bestimmen. Der Anlass zu deren Entwicklung ist dabei
möglicherweise aktueller als die Methode selbst.
Bei der ursprünglichen Konzeption des Mathematikunterrichts an preußischen Gymnasien im Zuge der
Humboldtschen Bildungsreform zu Anfang des 19. Jahrhunderts war die Infinitesimalrechnung durchaus als
Schulstoff für die Oberstufe vorgesehen. Es zeigten sich jedoch bald restaurative Tendenzen, die darauf
abzielten, den Bereich Mathematik und Naturwissenschaften zugunsten der Alten Sprachen zurückzudrängen.
Als dann noch Klagen wegen der angeblichen Überforderung der Schüler vernehmbar wurden, erließ
das zuständige Ministerium im Jahre 1829 ein Reskript, nach dem die Behandlung der
Differentialrechnung im Unterricht eingestellt werden musste. Allerdings waren die Aufgaben zur Bestimmung
lokaler Extrema beliebt – wer will, kann darin einen Widerhall des im 18. Jahrhunderts auch
weltanschaulich bedeutenden Prinzips der kleinsten Aktion sehen –, so dass mehrere Autoren
Ansätze suchten, um die Bestimmung von Extremstellen ohne Verwendung der Differentialrechnung zu
ermöglichen.
Schellbachs Methode speziell beruhte auf folgender Feststellung: Liegt an einer Stelle x0
einer (stetigen) reellwertigen Funktion einer reellen Veränderlichen x ein (isoliertes) lokales
Extremum vor, so gibt es zu jedem x1 < x0,
welches nahe genug bei x0 liegt, ein x2 > x0
mit f(x2) = f(x1).
Ist y eine weitere Veränderliche, so lässt sich schreiben
f(y) – f(x) =
(y – x)·g(x,y) mit einer Funktion g zweier Argumente,
wobei in der obigen Situation wegen x2 ≠ x1 gelten muss
g(x1,x2) = 0. Für hinreichend „gutmütige“
Funktionen f erhält man aus der letzten Bedingung durch den Grenzübergang von
x1 und x2 gegen x0 eine Bestimmungsgleichung
g(x0,x0) = 0, aus der sich der Wert von x0
bestimmen lässt.
Man kann Schellbachs Methode so interpretieren, dass sie darin besteht, durch geschicktes Umformen das
Auftreten von Differentialquotienten zu vermeiden. Daher kritisierte
Felix Klein (1849-1925) auch, dass sie teilweise als
eigenständiger Ansatz interpretiert wurde. Allerdings war offensichtlich, dass Schellbach sie nur
propagierte, um das Verbot der Differentialrechnung durch die Kultusbürokratie zu umgehen.
Wirken in der Lehrerbildung und in der Wissenschaftspolitik
Zudem befand sich Schellbach in einer deutlich ungünstigeren Position als Klein ein halbes Jahrhundert
später: Wie bereits erwähnt, wurde ab 1820 der Schulunterricht im Bereich Mathematik und
Naturwissenschaften zurückgedrängt. Schellbach tat gegen diese Entwicklung, was immer er als begabter
Pädagoge tun konnte, blieb aber doch im Wesentlichen ein Einzelkämpfer:
In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte weder die Industrie in ihrer Breite verstanden, dass sie ohne
mathematisch-naturwissenschaftliche Grundlagen nicht weiter fortschreiten konnte, noch war die Politik bereit,
diesen Bedarf zu berücksichtigen. So hatte Schellbach zwar in der Tat großen Einfluss auf die
Ausbildung einzelner Mathematiklehrer; die Strukturen des Bildungssystems konnte er jedoch nur beschränkt
beeinflussen: Sein Mathematisch-pädagogisches Seminar wurde nach seinem Ausscheiden aus dem
Schuldienst sofort wieder aufgelöst.
Hinzu kam, dass das Verhältnis zwischen Schellbach und den Berliner Universitätsmathematikern
nicht ohne Probleme war: Die gegenseitige Wertschätzung zwischen ihm und Dirichlet wurde zwar bereits
erwähnt, Schellbach machte aber auch später keinen Hehl daraus, dass seiner Einschätzung nach
die allermeisten der Berliner Universitätsvorlesungen zur Mathematik die Studierenden überforderten.
(Weierstraß war demgemäß sehr daran interessiert, dass der eigentliche Plan des Gründers
August Leopold Crelle [1780-1855] und des Verlegers Reimer des
Journals für die reine und angewandte Mathematik zunichte gemacht wurde, Schellbach nach dem Tode
Crelles zum leitenden Herausgeber dieser Zeitschrift zu machen.)
Dass Schellbach im Jahre 1844 gemeinsam mit Jacobi eine Eingabe zur Gründung eines mathematischen
Instituts in Berlin machte, war somit eher ein Zufall, der möglicherweise sogar darauf beruhte,
dass sich die beiden unter ihrem Ziel etwas Verschiedenes vorstellten: Jacobi ging aufgrund seiner
Erfahrungen in Königsberg von einer an der Universität angesiedelten Institution aus,
während Schellbach zwar auch an eine Einrichtung zur Beförderung der mathematischen Bildung dachte,
dabei aber insbesondere die Ausbildung für technische Anwendungen im Auge hatte –
und nicht zwangsläfig davon ausging, dass die Einrichtung Bestandteil der Universität sein sollte.
(Nach Interpretation von
Kurt-R. Biermann [1919-2002] hat Schellbach
insoweit zur 1861 erfolgten Gründung des
Mathematischen Seminars an der Universität Berlin beigetragen, als Kummer und Weierstraß dieses
Mathematisch-wissenschaftliche Seminar als eine Art Bollwerk gegen das
Mathematisch-pädogische Seminar Schellbachs verstanden.)
Die Idee eines Polytechnikums in Anlehnung an die École polytechnique in Paris war in
Preußen durchaus vorhanden, man ließ sich mit deren Umsetzung aber im Vergleich zu anderen
Ländern des Deutschen Bundes viel Zeit: Erst 1863 erfolgte der Erlass zur Errichtung der
Königlich Rheinisch-Westfälischen
Polytechnischen Schule zu Aachen, die dann 1870 eröffnet wurde. In (Berlin-)Charlottenburg wurde die
Königlich
Technische Hochschule sogar erst 1879 gegründet, und zwar durch die Zusammenlegung von
Bau- und Gewerbeakademie.
Ein Teil des Gründungskapitals für die Polytechnische Schule zu Aachen bestand übrigens
aus dem Hochzeitsgeschenk der preußischen Rheinprovinz an Schellbachs ehemaligen Privatschüler
Friedrich Wilhelm und seine Ehefrau Victoria von Großbritannien und Irland.
Sicherlich wird hierzu nicht allein Schellbachs Werben für Mathematik und Naturwissenschaften beigetragen
haben, dieser war aber durchaus bereit, seine Verbindungen zu Gunsten dieser Fächer spielen zu lassen:
Seine Intervention beim Prinz Friedrich Wilhelm im Jahr 1855 mit dem Ziel, Dirichlet in Berlin zu halten,
war zwar nicht von Erfolg gekrönt, aber in dieser Hinsicht war ja selbst
Alexander von Humboldt (1769-1859) kein
Erfolg beschieden. Hingegen führte Schellbachs Unterstützung einer von Wilhelm Foerster
im Jahr 1871 verfassten Denkschrift an den Prinzen Friedrich Wilhelm bereits 1874 zur Gründung des
Astrophysikalischen
Observatoriums in Potsdam.
Bei der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt ging es leider nicht so schnell:
Diesmal verfasste Schellbach die (nach ihm benannte) Denkschrift an den Prinzen Friedrich Wilhelm zur
Gründung eines Staatsinstituts für Messtechnik und neben anderen unterstützten ihn Foerster und
Helmholtz. Prinz Friedrich Wilhelm leitete sie im September 1872 auch an den zuständigen
preußischen Minister weiter, der sie der
Akademie der Wissenschaften zur
Prüfung übergab. Da diese den Vorschlag aber ablehnte, sah dann das preußische Abgeordnetenhaus
keine Veranlassung, diesem zuzustimmen. Erst die 1883 verfasste „Denkschrift betreffend die Begründung
eines Instituts für die experimentelle Förderung der exakten Naturwissenschaften und der
Präzisionstechnik“ von Helmholtz und
Werner Siemens3) (1816-1892) führte
dann zu einem Sinneswandel, insbesondere aber das Angebot von Siemens, dessen Gebäude auf einem von ihm dem
Staat geschenkten Grundstück in Charlottenburg und aus dem Erbe seines Bruders
Carl Wilhelm4) (1823-1883) zu errichten.
Referenzen
[1] | Kurt-Reinhard Biermann: Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität 1810-1933, Akademie-Verlag, Berlin, 1988 | |
[2] | Felix Müller: Karl Schellbach: Rückblick auf sein wissenschaftliches Leben, Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen 20.1 (1905), S. 3-40 | |
[3] | Gert Schubring: Die Entstehung des Mathematiklehrerberufs im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien zum Prozeß der Professionalisierung in Preußen (1810-1870), zweite, korrigierte und ergänzte Auflage, Deutscher Studienverlag, Weinheim, 1991 | |
[4] | Peter Ullrich: Karl Schellbach (1804-1892) und seine Beiträge zu Mathematik, Lehrerbildung und Wissenschaftspolitik, erscheint im Tagungsband der Gemeinsamen Jahrestagung der Fachsektion ,Mathematikgeschichte‘ der DMV und des Arbeitskreises ,Mathematikgeschichte und Unterricht‘ der GDM in Mainz, 29. Mai bis 2. Juni 2019, Schriften zur Geschichte der Mathematik und ihrer Didaktik, WTM-Verlag, Münster |
Bildnachweis
Porträt | aus dem Artikel Karl Schellbach: Rückblick auf sein wissenschaftliches Leben von Felix Müller [2] |
1) Anlässlich seines 80. Geburtstags im Jahr 1910 ernannte die
Stadt München Paul Heyse zum Ehrenbürger. Prinzregent Luitpold verlieh ihm den persönlichen
Adelstitel.
2) Im Jahr 1883 wurde Helmholtz in den Adelsstand erhoben.
3) In Anerkennung seiner Verdienste um Wissenschaft und Gesellschaft
wurde am 5. Mai 1888 Ernst Werner Siemens durch Kaiser Friedrich III. in den Adelsstand erhoben.
4) In England (ab ca. 1844) nannte er sich Charles William Siemens
bzw. nach seinem Ritterschlag 1883 Sir William Siemens.